Zur Genese
In einem früheren Artikel „Wi(e)der den Lehrervortrag – (Erklär)videos auch nach Corona?“ habe ich Lehrervortrag und Erklärvideo anhand verschiedener Parameter verglichen und bin zu dem Ergebnis gekommen: „Genauso wie der einführend-informierende Lehrervortrag ist die Erläuterung von Sachverhalten ersetzbar.“ Zugleich sind andere Varianten essentiell für das gemeinsame Lernen. Beispielsweise ist ein geplanter Einführungsvortrag in einer Tabletklasse mit 1:1-Ausstattung mit vorbereitetem Erklärvideo funktionaler, da sich hier die Schüler:innen die Informationsvermittlung im eigenen Tempo selbst steuern können. Anders hingegen ist die Situation in einem Setting mit oder ohne zentralem Präsentationsmedium – oder bei situativen Erklärungen oder interaktivem Lehrer-Schüler-Gespräch.
Anschließend habe ich Erinnerungen aus dem Studium hervorgeholt, vor allem pädagogisch-psychologische. Geprägt hat mich neben Seminaren zum Konstruktivismus und zur Reformpädagogik vor allem die Frage nach Motivation in der Psychologie. So war das Motiv meiner Abschlussprüfung in Pädagogik „Der Delfinarium-Effekt“, über den ich ebenfalls gebloggt habe: Delfine springen in Freiheit gerne, in Gefangenschaft nur noch für Belohnungen. Analog könnte man Schüler:innen betrachten, die sich nur für Noten am Unterricht beteiligen, nicht aus Lernfreude. Nach den beiden Blogartikeln bin ich zunehmend der Überzeugung, dass der Delfinarium-Effekt unter anderem in einer Tendenz zur Übergriffigkeit des Lehrervortrages wurzelt, die vor allem mit der traditionellen Lehrerrolle sowie dem gesellschaftlichen Verständnis schulischer (Hierarchie-)Strukturen begründet sind:
Zur Lehrerrolle im informierenden Lehrervortrag (und im Frontalunterricht)
Dem Lehrervortrag liegt eine lange Tradition zugrunde:
„so war es Mitte des 17. Jahrhunders kein geringerer als Comenius, der ‚alle alles umfassend‘ (omnes omnia omnino) lehren wollte. Der Lehrer sollte wie die Sonne über alle Schüler strahlen“.
aus: Herbert Gudjons: Methodik zum Anfassen (2006, S. 16)
Dieses nicht helio-, sondern lehrerzentrische Weltbild scheint zunächst antiquiert. Es lässt sich aber auch im 21. Jahrhundert noch finden, wie Herbert Gudjons am Beispiel des Frontalunterrichtes verdeutlicht. Dieses wird (wie aus meiner Sicht auch der informierende Lehrervortrag als dessen zentraler Bestandteil) aufgrund von Strukturen getriggert, die eng mit dem traditionellen Lehr-Lern-Konzept zusammenhängen:
„Frontalunterricht macht vor allem den Lehrern Spaß. Die Lehrkraft fühlt sich kompetent, kann […] sich selbst darstellen wie ein Schauspieler, der die Bühne braucht und seine Zuschauer. Es entsteht ein Wohlgefühl bei gelungener Inszenierung: Ich habe ihnen diesen schwierigen Text ganz toll vermittelt!“
Herbert Gudjons: Methodik zum Anfassen (2006, S. 16)
Besonders zur Selbstdarstellung fallen mir verschiedene Lehrer meiner eigenen Schulzeit ein. Einige Mitschüler:innen haben ihnen gern zugehört, zumal sie durchaus charismatisch waren. Andere hingegen mochten weder Lehrer noch Vortrag. Ich habe zudem das Gefühl, dass diese ausschweifenden Lehrervorträge eher von Männern gehalten werden, zumindest deutet das auch eine kleine, nicht repräsentative Umfrage an. Letztlich geht es nur partiell um Selbstinszenierung, sondern vor allem um die gesellschaftliche Erwartung an die Lehrerrolle:
„Lehrende können ihr Machtmonopol nur schwer abgeben. Frontalunterricht basiert auf dem traditionellen Lehrerbild: „Der Lehrer lehrt!“
Herbert Gudjons: Methodik zum Anfassen (2006, S. 16)
Dadurch muss der Lehrer der Akteur sein – und sein Publikum ihm passiv ausgeliefert.
Von informierendem Lehrervortrag und Mansplaining
Ein ähnliches Machtgefälle finden wir beim Mansplaining. Dieses Phänomen wurde zuerst von Rebecca Solnit umschrieben. Sie erklärt es später folgendermaßen:
„Das geschilderte Gesprächsverhalten ist eine Methode, im höflichen Diskurs Macht auszuüben – die gleiche Macht, mit der auch im unhöflichen Diskurs […] Frauen zum Schweigen gebracht […] werden – als Gleichwertige, als Partizipierende, als Menschen mit Rechten und viel zu oft schlicht als Lebende.“
Rebecca Solnit: Wenn Männer mir die Welt erklären. (2015, S. 28)
Auch wenn der Begriff selbst kontrovers diskutiert wird, wird das Phänomen der Männer, die Frauen alles erklären, in der Bevölkerung wahrgenommen, auch von Bundespräsident Walter Steinmeier. Und dieses Phänomen zeigt für mich Parallelen zum Lehrervortrag. „Mansplaining“ ist laut Oxford Dictionary: „jemandem etwas auf eine als herablassend oder bevormundend empfundene Weise erklären“. Dementsprechend geht es nicht nur um den Sender in dieser Kommunikation, sondern auch um den Empfänger sowie die Sender-Empfänger-Beziehung. So lässt sich ein bevormundender Charakter nach Gudjons auch für die schulische Hierarchie zeigen:
„Der Lehrer hat die Macht und die Sanktionsgewalt. SchülerInnen werden unterdrückt und gezwungen, das zu schlucken, was der Lehrer will. Das ist undemokratischer Unterricht, fördert Anpassung, äußere Ruhe und Ordnung sowie obrigkeitsstaatliches Verhalten!“
Herbert Gudjons: Methodik zum Anfassen (2006, S. 15)
Vor allem die Sanktionsgewalt prägte die Asymmetrie in der Beziehung, in die sich Schüler:innen auf lange Sicht meist fügen – wenn es auch die Möglichkeiten von Eskapismus und Destruktion gibt, die Möglichkeiten „Jenseits des Delfinariums“. Letztlich führen diese Strukturen jeweils unterschiedlich zu nachhaltig wirksamen Hierarchien, wie Caspar Shaller mit Blick auf das Mansplaining betont:
Anders gesagt: Wenn ich Schule derart gestalte, dass Lernende diese Hierarchie bereits früh in ihrem Leben akzeptieren, dürfen wir uns nicht wundern, wenn sie sich diese Rolle angewöhnen!
Wie problematisch diese Hierarchie sich auf Rezipientenseite auswirkt, erklärt Gudjons:
„Im Frontalunterricht lernen SchülerInnen rezeptiv. Sie nehmen passiv Informationen auf, die Aktivität liegt weitgehend bei der Lehrkraft. Selbsttätigkeit und Eigenständigkeit bleiben auf der Strecke. Unterricht wird zur Fremdbelehrung, zum ‚Beybringen‘!“
Herbert Gudjons: Methodik zum Anfassen (2006) S. 15
Somit wird die Hierarchie in der Schule vertieft, mit jedem passivierenden Lehrervortrag, mit jeder Stunde Frontalunterricht. Denn:
„Meistens schadet die Autorität der Lehrenden den Lernenden“
Michel de Montaigne (1533-1592)
Arbeit auf Augenhöhe – ein aufklärerischer Weg?
Eigentlich wollen wir ja 200 Jahre nach der Aufklärung Schüler:innen zur Freiheit erziehen: „Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Und eigentlich geben wir Immanuel Kant auch Recht, wenn er fordert, sich von falschen Amts-Autoritäten zu befreien wie dem Offizier, dem Finanzrat oder dem Geistlichen. Dennoch treten wir (leicht und unbedacht) an deren Stelle und befördern damit die Autoritätshörigkeit und Hierarchisierung. Autorität möchte ich als Fachmann, als Erzieher und als Mensch haben, aber nicht aufgrund einer unausgesprochenen oder offiziellen Hierarchie, die eher preußisches Erbe ist: „Der preußische Staat brauchte damals halbwegs gebildete und obrigkeitstreue Staatsdiener.“
Deshalb müssen wir diese Hierarchien aufdecken und abbauen – in der Schule wie beim Mansplaining.
Rebecca Solnit
Ich lasse ihnen dann keine Wahl mehr. Wenn sie hingegen eine echte Wahl haben und mich als Experten befragen, kann dieses Setting ein guter Weg sein. Ähnliches berichtet auch Klaus Lüber von einer Veranstaltung des www.netzwerk-bildung-digital.de von einem Lehrer der sich eigentlich nicht als Experte sieht, wenn überhaupt, nur zu Beginn eines Themenblocks. „Ich bin am Anfang vielleicht etwas schlauer aber gegen Ende oft nicht mehr, wenn die interessierten Schüler und Schülerinnen viel tiefer in die Materie eingetaucht sind, als ich.“
Vielleicht benötigen wir deshalb auch einen weiteren Schieberegler: Auf der einen Seite steht die Autorität der Lehrenden, auf der anderen die Autorität der Lernenden?

Martin Truckses
cc by Niels Winkelmann
2 Kommentare zu „Zur „Übergriffigkeit“ des Lehrervortrages. Eine Polemik.“