Mit „Schule 2040 – die große Versöhnung von Lehrmaschinen, Manfred Spitzer und Greta Thunberg“ haben Jöran Muuß-Merholz und Axel Krommer uns auf der Edunautika 2022 herausgefordert. Das greift zurück auf einen Text von Jöran, in dem er drei Schulentypen im Jahre 2040 beschreibt:
- eine (fast) analoge Schule, das „Manfred-Spitzer-Lyzeum“,
- eine post-digitale Schule, die „Greta-Thunberg-Reformschule“, in der Digitalität wie überall in der Welt omnipräsent und dadurch auch Teil schulischen Lernens ist, sowie
- eine Big-Data-Schule, die „Lida-Schule“, in der die Schüler:innen an Computern lernen, indem sie von adaptiven Lernsystemen ein „maßgeschneidertes Lehrangebot, das ein Lernen nach individuellen Bedürfnissen und Schwerpunkten sowie im individuellen Tempo ermöglicht“, bekommen.
Eine doppelte Frageebene in der Session
Ausgangsfrage der Session war, inwiefern diese Perspektiven miteinander versöhnbar sind; da Jörans Erfahrung zeigt, dass der Text eher polarisiert, als hilfreich eine pädagogische Reflexion anzustoßen, wenn Lehrer:innen damit konfrontiert werden. Rückblickend hatten wir eigentlich zwei Fragen im Raum: Die Ausgangsfrage nach der Versöhnbarkeit und die zweite Frage, warum der Text (möglicherweise) polarisiert. Auf die zweite möchte ich zuerst eine Antwort wagen: Der Text (den ich gerne mag und auch im Nachdenken über die Ausrichtung schulische Digitalisierung aufgegriffen habe) hat auf der narrativen Ebene einen (auktorialen) Erzähler, der die Reformschule neutral beschreibt und bei den anderen beiden Schulen Kritik anbringt: So würden nun auch digitale Medien am Lyzeum verwendet, weil analoge nicht mehr verfügbar seien, es gebe verdeckte Probleme mit Bullying und problematischen Medieninhalten, die Nutzung digitaler Medien „unterbleibe nicht komplett, sondern werde in dunkle Ecken verdrängt“. Die Lida-Schulen hätten ein ganz anderes Problem: „Schüler:innen verstehen ihr eigenes Lernen immer weniger.“
Damit werden Wertungen vorgenommen, die auf Lesende als Form der Manipulation wirken können, der sie sich widersetzen – was Widerstände weckt und polarisiert. Zugleich wird dem Manfred-Spitzer-Lyzeum eine Nähe zu Latein, Altgriechisch, Kalligraphie, Rhetorik, Musik und Sport, aber auch Konzentration, Ruhe, Achtsamkeit und Disziplin nachgesagt, was unausgesprochen nahelegt, dass diese Fächer und Themen in anderen Schulen nicht mehr relevant ist. Das kann inhaltlich zusätzlich polarisieren.
Spannungsfelder und Versöhnbarkeit
Darüberhinaus bleibt die Frage, inwiefern sich diese Perspektiven (und Distopien) miteinander versöhnen lassen. Wir haben in der Session vor allem über die vordergründige Dichotomie analog vs. digital diskutiert.

Dabei sind für mich andere Spannungsfelder zu kurz gekommen. Ich versuche einen strukturierten Überblick über Inhalte, Lernverständnis, Organisationsstrukturen und Rollenverständnisse:
Auf der Ebene der Inhalte gibt es eine klare Polarität: Die Reformschule nennt mit den SDGs Ziele, während das Lyzeum sich auf den klassischen und tradierten Wissenskanon bezieht. Damit orientiert es sich an der Vergangenheit, während sich die Reformschule an den Problemen der Gegenwart und den Themen der Zukunft (im Sinne Klafkis) orientiert. Da die Lida-Schule auf adaptiven Systemen basiert, die bisher eher Bestehendes festigen (beispielsweise in strukturellem Rassismus von IT-Systemen), ist die Lida-Schule wie das Lyzeum am Wissenskanon orientiert.

Ein Schlüssel zur Versöhnung könnte hier im Verständnis für die Welt als Vuca bestehen, also von Volatilität (=Unbeständigkeit), Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität (Mehrdeutigkeit) geprägt. Angesichts einer Informationsexplosion, also der Verdopplung der Informationen in wenigen Jahren, müssen Schüler:innen sich nicht auf wenig altes Wissen fokussieren, sondern andere Kompetenzen wie Filterkompetenzen und lebenslanges Lernen besitzen.
[Nachtrag, auf Vorschlag von Norman Mewes als sowohl-als auch] Wir benötigen sowohl einen (kleineren) Wissenskanon als auch gegenwarts- und zukunftsbezogene Ziele.
Daraus folgen Implikationen für das Spannungsfeld Lernformen: Während das Lyzeum und Lida aus dem Kanon auf Vorrat lernen (können), ist das an der Reformschule nicht vorstellbar. Lernen ist konsequent anwendungsbezogen. Damit funktioniert das Lernen hier sehr lernerzentriert, während Lyzeum und Lida stärker lehrerzentriert arbeiten (zumindest adaptiert die Software das Verhalten einer guten Lehrkraft). Damit arbeiten sie zugleich stofforientiert, während die Reformschule eher an den Kompetenzen und der Entwicklung der Lernenden orientiert ist.

Hier liegen sicherlich Versöhnungschancen in der Vorstellung guter Lehre: Wenn Lernende Interesse an einem bestimmten Themengebiet haben, lässt sich dieses hervorragend durch systematische Lehre vermitteln, ob im Unterricht oder beispielsweise in E-Learning-Angeboten. Entscheidend sind Interesse und Engagement der Lernenden.
[Nachtrag, auf Vorschlag von Norman Mewes als sowohl-als auch] Wir benötigen sowohl vorstrukturiere Lehrangebote als auch ein lernerzentrierte Grundausrichtung.
Ähnliches gilt für die Organisationsstrukturen des Lernens: Auch hier zeigt sich die Polarität zwischen der Reformschule einerseits, die fächerverbindend und auf Projektbasis arbeiten lässt, und Lyzeum und Lida auf der anderen, die nach Fächern untergliederte Lehrgänge oder Kurs anbieten.

Diese Ideen beinhalten unterschiedliche Rollenkonzepte: Während an der Reformschule kooperativ in Netzwerken gelernt wird, arbeitet Lida nur individuell – wie das am Lyzeum läuft, wird nicht beschrieben. Die Reformschule arbeitet so umfassend personalisiert, dass Inklusion vollständig umgesetzt ist und Offenheit und Vertrauen herrschen. Lyzeum und Lida hingegen haben vor allem auch eine Kontrollfunktion, allerdings das Lyzeum gegen Technologie und Lida durch Technologie.

Das erfordert dort zugleich eine klare Hierarchie und öffnet an der Reformschule Türen für Demokratiebildung und Gleichberechtigung.
Fazit
Es zeigen sich zwar Differenzierungen in den Polaritäten, aber meistens steht die Greta-Thunberg-Reformschule alleine auf der einen Seite. Chancen für die Versöhnung scheinen vor allem im Weltverständnis als vuca sowie dem Verständnis für die Mischung aus Projekten und Kursen zu liegen. Daraus folgen dann aber Organisationsstrukturen und Rollenkonzepte wie in der Reformschule, die aus meiner Sicht oft nur als nicht machbar abgelehnt werden: Viele Kolleg:innen halten die pädagogischen Ansätze für wertvoll, sehen aber keine ernsthaften Möglichkeiten der Umsetzung.
cc by Niels Winkelmann
PS: Danke an Norman Mewes:
Lieber Niels,
die Ehre, die du mir angedeihen lässt, ist mehr als ich verdiene, denn das sind jedenfalls deine (durch meinen Hinweis auf El-Mafaalani höchstens angeregten) Gedanken. El-Mafaalani stellt ja die Frage nach der Bildungsgerechtigkeit, daher meine Formulierung vom Gerechtwerden. Ich bin skeptisch, ob sich das von dir aufgestellte Set von Antinomien um ein entsprechendes Paar erweitern ließe, denn das wäre nur sinnvoll, wenn die Schulen im Zukunftskonstrukt entweder der die Bildungsgleichheit fördernden oder der die Bildungsungleichheit fördernden Seite (als ein Maß für Bildungsgerechtigkeit) zugerechnet werden könnten. Solch einfache Zuschreibung erschiene mir aus verschiedenen Gründen eher ideologisch als logisch.
Die Ursache dafür liegt mMn schon in dem Zukunftskonstrukt selbst, das El-Mafaalanis Gedanken vom Einfluss eines Habitus darauf, was als den jeweiligen Bedarfen eines Lernenden gerecht werdend (iSv die Bildungsungleichheit verringernd) angesehen werden kann, nicht aufnimmt und berücksichtigt. Die paar Hinweise auf die Herkunftsmilieus der Lernenden wirken auf mich selbst dann noch holzschnitthaft, wenn angenommen wird, dass es sich in jeder der Schulen nicht um ein einziges, sondern bloß um das vorherrschende Milieu handelt.
Kurz: Meine Kritik sehe ich eher als Teil eines Rahmens zur Einordnung des Settings im Zukunftskonstrukt als zu dessen Analyse.
Gruß
Norman
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