„Ich finde diese digitalen Sachen total gut. Aber die bleiben immer eine zusätzliche Aufgabe. Dann schaffe ich meinen Stoff nicht!“
Drei Sätze, die viel sagen über den Stand der Transformation unserer Schulen. Eigentlich will ich raus aus traditionellen Settings, rein in postdigitale Lehr-Lernszenarien, in denen digitale Möglichkeiten genauso selbstverständlich sind wie analoge, in denen es ebensowenig Tabletklassen gibt wie Buchklassen.
Drei Aspekte werden deutlich:

1. Der Stoff scheint nach wie vor alles zu erdrücken
Auch wenn wir längst kompetenzorientierte Curricula haben (sollten), hängt Schule noch in Stoffverteilungsplänen fest. Teils wurden kleinschrittige Stoff-Curricula in kleinschrittige Kompetenz-Curricula überführt, teils wird nur das heimliche Curriculum des Lehrwerkes abgearbeitet. Hier fehlt oft der Mut, sich auf das Wesentliche zu beschränken, zentrale Kompetenzen zu priorisieren.
Dabei helfen kann der Blick auf prozessbezogene Kompetenzen, wie sie in den Curricula benannt, aber dann von inhaltsbezogenen Kompetenzen dominiert werden: Beispielsweise stellt das „Kerncurriculum für das Gymnasium. Schuljahrgänge 5-10. Mathematik. Niedersachsen“ die prozessbezogenen Kompetenzen „mathematisch argumentieren“ und „kommunizieren“ den inhaltsbezogenen voran. Aber diese übergeordneten Kompetenzen bleiben im Unterricht oft außen vor, weil Schüler:innen „das ja in der Arbeit rechnen können müssen!“
Das ist sicherlich eine Frage von zeitgemäßer Prüfungskultur, aber auch eine Frage schul-systemischer Prioritäten: Wie wichtig sind übergeordnete Kompetenzen wie Argumentieren und Kommunizieren? Wenn ich deren Eigenwert (gemäß dem Curriculum) betone, bekommen Erklärvideos und PodCasts einen ganz anderen Stellenwert im Unterricht. Dann kann Argumentieren und Kommunizieren in der Erstellung geprobt und nach der Erstellung analysiert werden. Dann sind wir näher an den 4K-Kompetenzen als im traditionellen Mathematikunterricht.
2. Wir haben nur bedingt ein Haltungsproblem
Viele Kolleg:innen halten „Digitalisierung“ für zeitgemäß. Für manche ist sie ein zeitgemäßes Übel, aber die meisten sehen, dass die Welt sich ändert und wir daher Schüler:innen für eine andere Welt auch anders vorbereiten müssen. „Digitale Kompetenzen“, was immer das auch sein mag, halten die meisten Kolleg:innen für wichtig. Sie würden ihren Schüler:innen diese gerne vermitteln – wenn sie nur wüssten, wann. Sie haben keine Zeit, weil sie in der Stoffverteilung festhängen – und in tradierten Unterrichtskonzepten.
Darin zeigt sich das Bild der Schule als „schwerfälliger Tanker“, weshalb Jan Vedder durchaus zu Recht keine Kursänderung fordert, sondern „den großen Wurf“. Wir können aber das Schulsystem mit seinen Curricula, seinen Prüfungsordnungen und seinem Bürokratismus von unten kaum beeinflussen. Dennoch kann ich bis zum großen Wurf an Stellschrauben drehen. Eine zentrale ist die Anschlussfähigkeit:
3. Digitales muss anschlussfähig sein
Weil Kolleg:innen „Digitales“ immer wieder als Zusatzaufgabe erleben, müssen wir Lern-Lehr-Wege öffnen, die an den traditionellen Unterricht anschließen können. Hier bieten sich (vor allem an den Gymnasien) die einheitlichen Prüfungsanforderungen (EPA) an. Damit kehren wir einige Probleme, die uns Prüfungen bereiten, zwar zunächst nur um, können aber in wenigen Schritten eine Transformation einleiten, die auch Prüfungen transformieren kann:
- Dafür müssen Schulen für die unterschiedlichen Anforderungsbereiche zunächst didaktische Szenarien identifizieren, wie kleine und größere digitale Phasen in den Unterricht integriert werden können. Beispiele:
- In Reproduktionsphasen (AFB 1) können Sketchnotes oder Mindmaps Informationen anders aufbereiten, Videosequenzen, Grafiken oder Gifs Sachverhalte illustrieren und Videosequenzen oder eBooks Handlungsverläufe wiedergeben.
- In Reorganisationsphasen (AFB 2) können Sketchnotes und MindMaps Wissen neu verorten, in Flyern, PodCasts oder Erklärvideos kann Wissen im Gesamtzusammenhang dargestellt werden.
- In Phasen von Transfer, Reflexion und Problemlösung (AFB 3) können alle drei Möglichkeiten in PodCasts, Erklärvideos, Printprodukten wie Flyern und Plakaten oder Präsentationen sichtbar gemacht werden. Zur Reflexion sind besonders Meta-Produkte geeignet, die als eBooks, ePortfolios, Erklärvideos oder Präsentationen (Zwischen)Ergebnisse aus der Reproduktions- und Reorganisationsphase beinhalten.

- Diese didaktischen Szenarien müssen von den Fachschaften erprobt, reflektiert und systematisch implementiert werden.
Dadurch wird für Lehrer:innen, Schüler:innen und Eltern sichtbar, dass neben den klassischen textbasierten Aufgaben auch andere Formate ihren Platz haben. Lehrer:innen und Schüler:innen können gemeinsam über angemessene und zeitgemäße Lern- und Prüfungs-Formate nachdenken. Zudem können im Hinblick auf die Lernwirksamkeit individuelle und differenzierte Lernwege eröffnet werden. Mit der Akzeptanz für unterschiedliche Formate wandelt sich das gesellschaftliche Bild von Prüfung und Leistung.
cc by Niels Winkelmann