vielen Dank für Ihren Artikel auf FAZ.net: „Diskussionen auf Twitter & Co: Das anarchische Potential des digitalen Lehrerzimmers“. Sie haben mich zu Nachdenken gebracht. Vor allem ihre Einordnung des Institut für zeitgemäße Prüfungskultur als „Aktivistenkreis“ hat mich beschäftigt: Ein Aktivist ist laut Wikipedia eine Person, „die mit besonderen Leistungen, mit Aktivismus, bestimmte Ziele fördert“. Sie zeichnet sich also durch den besonderen Einsatz für eine gute Sache aus, in diesem Fall für zeitgemäße Bildung.
Die Welt ist komplexer geworden, nicht zuletzt aufgrund der „Kultur der Digitalität“. Deshalb muss sich auch Bildung weiterentwickeln, von den Inhalten über das Lernen bis hin zum Prüfen. Da möchte ich lieber zu denen zählen, die aktiv werden und sich für eine gute Sache stark machen, als passiv zu bleiben und die Defizite unseres Schulsystems zu ertragen. Mancher meint, wir können diese Defizite an den Ergebnissen von Pisa und Timms ablesen. Ich würde sie eher an den frustrierten Kindern im Schulsystem und den unselbstständigen Schulabgängern festmachen. Deshalb verstehe ich mich nun als Bildungsaktivist: Für zeitgemäße Bildung, für zeitgemäßes Prüfen, für selbst-bestimmte Lerner und selbst-bewusste Heranwachsende. Ich möchte Teil sein dieser „Graswurzelbewegung“, weil – wie Sie Axel Krommer so schön zitieren – „die gesamte Gesellschaft durch die Kultur der Digitalität […] in eine neue Denk-Nährlösung […] getaucht wird, in der auch solche Begriffe wie ‚Lernen‘ und ‚Wissen‘ neue Bedeutungen erhalten“.
Zum Wissen, was neue Bedeutung erlangt, gehört für mich allerdings auch ein zeitgemäßer Evidenzbegriff. Wenn Sie in Ihrem Artikel „alle Evidenz“ und die Hattie-Studie miteinander kombinieren wollen, reicht ein Blick in Wikipedia, um von der lebendigen Diskussion über die Hattie-Studie zu erfahren: „Hattie weist darauf hin, dass affektive und soziale Aspekte sogar wichtiger sein können als die von ihm angeführten Faktoren, erstere jedoch nicht in seinem Blickfeld liegen (so in Visible learning. London, New York 2009).“ Auch wenn die Hattie-Studie uns wichtige Hinweise liefert, müssen wir sie differenziert betrachten, Evidenz ist hier nicht absolut. Die Welt ist komplexer geworden und mit ihr auch der Evidenzbegriff. Und wenn wir Schüler:innen kompetent machen wollen für eine Welt, in der wir Dank eines ehemaligen amerikanischen Präsidenten die krude Idee des Postfaktischen haben, brauchen wir diesen differenzierteren Begriff von Evidenz. Das werden wir didaktisch nur einlösen können, wenn wir uns von der Absolutheit des Evidenzbegriffs verabschieden und bereit sind zum offenen Diskurs.
Dieses gilt besonders auch für das Prüfen. Da scheint es für Sie nur eine Art zu geben, da das Institut für zeitgemäße Prüfungskultur für Sie „gerade das Gegenteil von Prüfen“ vertritt. Aber auch hier benötigen wir einen differenzierten Begriff:
„Die Schule braucht nicht nur eine Art von Leistungsbeurteilung – sie muss lernen, dass man für verschiedene Zwecke unterschiedliche Verfahren benötigt.“
Felix Winter: Lerndialog statt Noten (2018, S. 14)
Ich empfehle diese Lektüre auch, weil Winter ganz nebenbei einen Einblick in den entsprechenden Forschungsstand zu anderen Formen der Leistungsbeurteilung gibt – bis hin zur Frage, inwiefern Noten sinnvoll sind. Vielleicht erschließt sich dann etwas besser, dass meine Graswurzelbewegung sich nicht nur innerhalb der Fachliteratur umsieht, sondern sie mitschreibt und mitprägt. Übrigens werfen auch die Kultusministerien eine differenzierten Blick auf die Formen der Leistungsbeurteilung, also „solche Vermischung von Lernen und Leisten“, wie Sie es nennen. Beispielsweise ist das in Niedersachsen durchaus zulässig.
Ich jedenfalls mache mir gerne Winters Idee zu eigen, „die Leistungsbeurteilung nützlicher für das Lernen zu machen“ (Felix Winter, Lerndialog statt Noten, 2018, S. 11). Das unterscheidet sich von Ihrer Frage, was am besten geeignet ist „zur Feststellung individueller Lernstände und Leistungsurteile“. Nur mit einem differenzierten Vorstellungen von Evidenz und Leistung kann ich meine Schüler:innen auf diese komplexe Welt vorbereiten, beispielsweise auch darauf, einen Artikel wie diesen zu verstehen, sowohl in seinem Inhalt als auch in seiner Medialität.
Mit freundlichen Grüßen
Niels Winkelmann
PS: Ihr Artikel war eine gute Erinnerung, meine Polemik „Zur ‚Übergriffigkeit‘ des Lehrervortrages“ fertigzustellen. Er steht nun hier online. Wo sie ihn schon angekündigt haben, möchten Sie ihn ja vielleicht auch lesen?