Ich arbeite nun im dritten Jahr im Fach Deutsch mit Portfolios (Jahrgänge 9-13). Darin reflektieren meine Schüler:innen ihre eigenständige Arbeit in Lesejournalen. Diese erstellen sie, während sie Lektüren lesen. Warum ich den großen Wert in Prozessorientierung, Persönlichkeitsbildung und Selbststeuerung sehe und wie ich das angehe:
Lernen mit Spaß verbinden
Die Rückmeldungen meiner Schüler:innen nach Lektüren waren trotz mehrjähriger Erfahrung ambivalent. Einige freuten sich (zu Recht) darüber, viel gelernt zu haben, anderen hatte ich die Lektüre verdorben. Eine Rückmeldung ragte heraus: „Vorher mochte ich das Buch, danach nicht mehr.“ Ich hatte jemandem den Spaß an der Lektüre verdorben. Womöglich hatte ich neben der Lerndimension von Unterricht die Spaßdimension vernachlässigt.

Ja, das kann passieren. Und nein, das sollte nicht passieren.
Auf einer Fortbildung fand ich meinen Impuls: Eine Kombination aus Lesejournal und anschließendem Portfolio. Schüler:innen können im Lesejournal eigene Schwerpunkte setzen, ihre Arbeitsform selbst wählen und so den Spaßfaktor mitgestalten. Und durch die Einbindung dieser selbstgewählten Schwerpunkte können Spaßfaktor und individuelle Schüler:innen-Interessen an der Lektüre Einzug in den Unterricht halten. Schließlich wird der Prozess im Portfolio dokumentiert und reflexiv verdichtet.
Arbeit im Lesejournal
Im Sinne der Selbststeuerung haben meine Schüler:innen viel Freiraum. In einer Einführungsstunde gebe ich einen Überblick. Ob die ganze Lerngruppe eine gemeinsame Lektüre liest oder unterschiedliche Ganzschriften in Gruppen oder einzeln gelesen werden: Im Kern vertiefen alle Lernenden im eigenen Tempo den Leseprozess, indem sie im Sinne von Jöran Muus-Merholz an Lesejournaleinträgen „arbeiten“. Damit sie Ideen haben, woran sie arbeiten können, habe ich in der „Anleitung zum Lesejournal“ (als pdf oder docx) eine Liste zusammengestellt. Da sich anfangs einzelne Schüler:innen auf die simpelsten Optionen zurückgezogen haben, habe ich in der Liste Schwierigkeitsgrade implementiert und vor allem die Selbststeuerung intensiviert. Dafür bitte ich nun alle, sich vorher ein Ziel zu setzen und es mir mitzuteilen (zuletzt über das Aufgabemodul in IServ). Weil auch das einigen zunächst schwer gefallen ist, habe ich eine Liste möglicher Ziele ergänzt.
Nach meiner Erfahrung gibt es eine große Spannbreite an sinnvollen Zielen. Für einige ist es ein sinnvoller Entwicklungsschritt, eine Lektüre tatsächlich ganz zu lesen oder sich zu erarbeiten. Andere folgen sehr persönlichen Interessen, etliche orientieren sich strebsam am klassischen Deutschunterricht und arbeiten an Interpretationshypothese- und Analysefähigkeiten. Wieder andere finden Freude im kreativen Ausdruck.
Zentral für mich ist die prozessorientierte Selbststeuerung, so darf ausdrücklich das Ziel modifiziert werden. Am Ende soll das Lesejournal kein fertiges Gesamtkunstwerk sein, sondern eine prozessdokumentierende Sammlung. Lernende haben darin Chancen, die intrinsische Motivation zu stärken – oder wiederzufinden. Dafür müssen sie sich eigene Ziele setzen und setzen dürfen. Unterrichtende müssen dann – wie in Valentin Hellings Blog beschrieben – „vermehrt in eine Begleitung übergehen, die gemeinsam mit dem Lernenden Ziele identifiziert und deren Realisierung organisiert. Ziel wäre, dass aus dem „ich muss“ und dem „kann mir jemand sagen wofür?“ ein „ich will, weil ich dieses Ziel habe“ wird.“
Dementsprechend sind auch viele Lernende sehr motiviert. In den letzten Jahren habe ich oft beobachten dürfen, wie ein Großteil der Lerngruppe viel Arbeit in die Lesejournale und die Portfolios investiert hat. Teilweise habe ich ganze Aktenordner mit Unterlagen bekommen, nun sind es zunehmend e-Portfolios, auch wenn sich dafür noch keine systematische innerschulische Struktur etabliert hat. Meistens arbeiten die Lernenden allerdings cross-medial, zeichnen beispielsweise analog und digitalisieren die Zeichung – oder erstellen Social-Media-Profile und drucken sie dann aus.
Auswertung im Portfolio
Auch die Portfolios erläutere ich bereits in der Einführungsstunde, aber ebenso wie die Lesejournalarbeit erkläre ich die Erstellung des Portfolios mehrfach. Anfangs doziere ich und kommentiere dabei das Papier „Portfolioarbeit zur Lesejournalarbeit“ (als pdf oder docx), später erinnere ich und wir klären viel dialogisch.
Inhaltlich ist für mich das Portfolio wichtiger. Das fertige Lesejournal ist ein persönliches Zwischenprodukt, mir geht um den Prozess dorthin. Der Weg war also eigentlich das Ziel, vielmehr der kritische Rückblick darauf. Daher ist die Reflexion des individuellen Lernprozesses für mich der spannendste Bereich. Darum erzeuge ich durch den doppelten Fokus auf Lektüreverstehen und Selbsterkenntnis ein Spannungsfeld für Lernende. Je nach Fokus reduzieren einige das Portfolio auf ihre Lernzuwächse, andere auf die Selbstreflexion. Letztlich ist diese doppelte Herausforderung bewusst hoch gelegt. Ich habe in der Vergangenheit viele tolle Lesejournaleinträge gesehen, ebenso gab es beeindruckende Reflexionen, aber das Zusammenspiel bleibt für die meisten Lernenden eine Herausforderung: Was hast Du über die Lektüre und über Dich gelernt? Da liegt genau in der Schnittmenge die konstruktive Herausforderung an Lernende, ihre Lernprozesse reflexiv zu gestalten. Um es mit Max Frisch zu sagen: „Schreiben heißt, sich selber lesen.“
Allerdings ist dieser Bereich der Selbstreflexion als Teil von Persönlichkeitsbildung sehr sensibel. Er erfordert bereits im Vorfeld eine persönlichkeitssensible Lehr-Lernkultur zwischen mir als Lehrer und den mir anvertrauten Kindern. Sie müssen wissen, dass ich sie als Person wertschätze, aber ihre Leistung nach bestem Wissen und Gewissen an transparenten Maßstäben messe. Daher habe ich auch versucht, mit Bewertungsbögen zu arbeiten, um eine systematische oder schematische und darin transparente Bewertung zu ermöglichen. Letztlich waren die Bögen aber nicht praktikabel. Letztlich bewerte ich die Artikulationskompetenz im Hinblick auf das Metalernen: Inwiefern wird anhand des Vorwortes und der ausgewählten Lesejournaleinträge deutlich, was Lernende über die Lektüre und über sich selbst gelernt haben, während sie nach dem selbstgesetzten Ziel streben.
Dafür müssen Lernende ihre Selbststeuerung (und -beobachtung) reflektieren. Eigenständiges Arbeiten ist nur möglich, wenn Selbststeuerung funktioniert. Selbststeuerung wiederum kann nur selbst-reflexiv evaluiert werden. Dann ist sie Meta-Lernen als vierte Dimension von Lernen im Sinne von Fadel, Bialik und Trilling („Die vier Dimensionen der Bildung“).
In die Unterrichtssequenz einbinden
Um eine sinnvolle Begleitung im Unterricht leisten zu können und die Ideen aus den Lesejournalen produktiv nutzbar zu machen, setze ich nach der Einführungsstunde oft kurze Austauschrunden an. Beispielsweise nennen alle im Blitzlicht die bisher gewählten Einträge im Lesejournal. Oder sie tauschen sich in kurzen Murmelgruppen aus, am liebsten bunt gemischt oder mit der Anweisung, sich eine Gruppe zu suchen, in der sie mit den Anderen wenig über das Lesejournal gesprochen haben. Aus den Murmelgruppen können dann auch gute Ideen mit ins Plenum gebracht werden für die weitere Unterrichtssequenz. Grundsätzlich arbeiten meine Lerngruppen im Rahmen einer Langzeithausaufgabe an ihren Lesejournalen. Besonders zuhause, außerhalb des durchgetakteten Schulalltags, haben aus meiner Sicht Kinder und Jugendliche die Möglichkeit, „sich in Dinge zu vertiefen, sich Ihren Potentialen zu widmen, an ihren eigenen Herausforderungen zu wachsen, dann lernen sie alles, um ihrem Potential und Willen entsprechend, alles lernen zu können, was sie wollen und/oder brauchen, um ein Ziel (z.B. eine Ausbildung oder ein Studium) zu erreichen.“
Zur Weiterentwicklung der Methode
Noch nicht zufriedenstellend ist mir eine sinnvolle Vorstellung der Ergebnisse gelungen. Eine Ausstellung wäre hier ebenso denkbar wie die Vorstellung in Kleingruppen. Oft waren die Abgaben leider kurz vor den Ferien, damit ist es auch eine Frage des Timings. Hier wären für mich ePortfolios eine Chance. Dann könnten die Ergebnisse in einem geschützen Raum wie unserem ILIAS präsentiert werden, individuelles Feedback wäre möglich. In beiden Fällen müsste allerdings auch eine gekürzte Version möglich sein, die wiederum Mehrarbeit beinhaltet.
Zudem möchte ich die Methode partizipativer gestalten. Die Frage nach den Bewertungskriterien sollte gemeinsam in der Lerngruppe beantwortet werden. Das ist mir noch zu wenig gelungen. Hier hoffe ich auf Lerneffekte bei meinen Schüler:innen und bei mir.
Was mir aber gelungen ist: Ich habe die Möglichkeit, eine Klassenarbeit durch ein Portfolio zu ersetzen. Das teste ich im März im Kontext von Rollenbiografien zu selbstgewählten Dramen. Ein kleiner Schritt für die Portfolioarbeit. Aber ein großer Schritt Richtung alternative Prüfungsformate? Ein Bericht folgt…
cc by Niels Winkelmann
[Update am 15. Juli 2022: Ich habe meine Materialien überarbeitet und eine Zielauswahl implementiert, mehr dazu hier.]