Auch wenn mein persönlicher Start ins nächste Schuljahr noch einige Wochen hin ist, sind diese Sommerferien für mich mehr denn je eine Zeit, in der ich mich und mein Unterrichtskonzept sortieren, verstehen und einordnen möchte. Das liegt vor allem daran, dass ich im Sommer 2020 nach mehreren Jahren des Unterrichtens in iPad-Klassen und mit interaktiven Displays den #RoutenplanerDigitaleBildung gelesen und danach den Sprung zu Twitter gewagt habe. Mir hat sich eine neue Welt erschlossen. Spätestens seit der folgenden Lektüre von Stalders „Kultur der Digitalität“ (hier eine Kurzfassung von ihm selbst) betrachte ich die digitalen Elemente von Unterricht anders. Ich verstehe zunehmend, was ich schon lange im Unterricht in der digitalen Welt erspürt habe, und lerne, das zu artikulieren. Deshalb hat dieser Blog auch an Bedeutung gewonnen. Er war immer schon dafür gedacht, Gedanken zu sortieren, hat aber mit meiner Lernkurve auch eine kommunikative Funktion gewonnen, da mit der Vernetzung auf Twitter auch ein Dialog mit Kolleg:innen eingesetzt hat.
Außerdem hatte ich während Corona ohne den klassischen Prüfungs- und Notendruck sowie aufgrund der hybriden Szenarien Zeit und Gelegenheit, mehr mit Lernprodukten, zeitgemäßen Prüfungsformaten und projektbasierten Methoden wie Scrum zu arbeiten. Um das nächste Schuljahr vorzubereiten, Schüler:innen, Eltern und Kolleg:innen meine Idee von Unterricht erklären zu können, habe ich versucht, die wichtigsten Punkte zu verschriftlichen. Diese möchte ich in weiteren Postings erläutern und zur Diskussion stellen. Ich würde mich über Kommentare, aber auch Diskussionen auf Twitter freuen.
Die Punkte zunächst in der Übersicht:
Prinzipien für Deinen Lernweg
1. Du bist Spezialist:in für Deinen Lernweg: Bestimme Dein Lerntempo, Dein Niveau, Deine Lernstrategie! Setze Dir Ziele!
2. Das schulische Wissen ist kein Geheimnis, es steht in Büchern und im Internet: Informiere Dich, sammle die besten Informationen und teile sie mit Deinen Mitschüler:innen!
3. Gemeinsam lernt jede:r besser: Organisiere so viel Zusammenarbeit mit Deinen Mitschüler:innen wie möglich, setzt euer Wissen so oft wie möglich in einem gemeinsamen Lernprodukt um (z.B. PodCast, Video, Flyer, Quiz, Wiki, selbstgestalteter Vorschlag für eine Klassenarbeit…)!
4. Wissen ist wertlos ohne Bedeutung: Suche immer nach Anwendungsmöglichkeiten in Deinem Leben - mache Dich für eine gute Sache stark, setze Dich für Andere ein, verbessere unsere Welt, indem Du Dein Wissen einsetzt.
Zu 1. Mehr denn je ist mir klar, dass Lernen „lernseitig“ gedacht werden kann, wie Jöran Muuß-Mehrholz das erklärt hat (#RoutenplanerDigitaleBildung, S. 151f.). Wenn ich meine Schüler:innen zu guten Leistungen führen möchte, muss ich ihnen Gestaltungsraum geben. Je mehr ich sie zu bestimmten Leistungen bewegen möchte, um so mehr erziele ich den Delfinarium-Effekt: Die Schüler:innen springen dann wie Delfine im Delfinarium nur noch, wenn ich ihnen als Belohnung eine gute Note anbiete.
Das korrespondiert für mich stark mit Felix Winters Idee von der Qualitätensuche (aus „Lerndialog statt Noten“, das lese ich aktuell). Ich muss meinen Schüler:innen also Raum für eigenständige und selbstbestimmte Delfinsprünge lassen, als Lehrer ist es dann meine Aufgabe, mit den Lernenden über die Qualitäten der Delfinsprünge in den Dialog zu treten. Insofern kann der Weg nicht über Differenzierung oder Individualisierung führen, sondern über die Personalisierung von Lernen. Dafür müssen Lernende selbstbestimmt ihr Arbeitstempo bestimmen können, ihr Niveau einschätzen lernen und ihre Lernstrategien überwachen und anpassen. Dann erst können sie zum großen Sprung ansetzen.
Das kann nur zielgerichtet funktionieren. Dafür müssen die Schüler:innen ihre Lernwege reflektieren und sich eigene Ziele setzen. Spannend ist für mich in der Hinsicht Scrum, da hier eigene Lernwege in Projekten ermöglicht werden. Allerdings hadere ich darin mit der häufig empfohlenen Rolle der Lehrenden als „Product Owner“. In meinen Augen sollte ein „Product Owner“ auch in schulischen Projekten wie ursprünglich in Scrum Teil des Teams sein, sodass nicht Lehrende die Ziele definieren, sondern das Team selbst hier entscheiden kann. Denn: Personalisiertes Lernen kann in lebenslangem Lernen münden!
2. Das schulische Wissen ist kein Geheimnis, es steht in Büchern und im Internet: Informiere Dich, sammle die besten Informationen und teile sie mit Deinen Mitschüler:innen!
Zu 2. Schule sollte post-digital gestaltet werden: Wir sollten davon ausgehen, dass Digitalität Teil dieser Welt ist und wir Lernen in einer solchen Welt gestalten müssen.
Ganz zentral ist dabei für mich der Wandel der Welt hinsichtlich des Informationsmanagements. Längst haben wir nicht nur viel zu viele Informationen, da sich innerhalb weniger Jahre die Wissensbestände der Welt verdoppeln. Sondern wir haben zudem das Wissen in digitaler Form so gut organisiert, dass all das, was in der Schule gelehrt werden soll, jederzeit und (fast) überall digital verfügbar ist. Insofern hat die Schule heute keine informierende Funktion mehr wie vor hunderten von Jahren, als das Wissen noch diktiert wurde und nicht erlesen werden durfte. Auch sind heute nicht mehr Lehrende die Träger des Wissens, die deshalb ihr Wissen wie im Kaiserreich aus der Universität in die Schule transportieren. Und auch Bücher sind nicht mehr die einzigen medialen Träger des Wissens, das Internet hält das Wissen in anderer medialer, (un)didaktischer und inhaltlicher Form ebenso bereit. Damit ist es prädestiniert für personalisiertes (und weniger formalisiertes) Lernen. Die Aufgabe der Lehrenden im postdigitalen und personalisierten Lernen kann nicht mehr die Informationsweitergabe sein. Informationsbeschaffung, -verarbeitung und -bewertung müssen zentraler Bestandteil des post-informierenden Unterrichts sein!
Unterrichtende können dabei natürlich weiter informieren. Ein zentrales Element ist dabei das Kuratieren von Informationen, wozu für mich auch das Schulbuch als Vorauswahl zählt. Aber die zentrale Rolle beim Informationsmanagement haben die Lernenden. Alle drei Schritte (Informationsbeschaffung, -verarbeitung und -bewertung) müssen natürlich geübt und reflektiert werden, hier wandelt sich die Aufgabe der Lehrenden. Sie sind stärker in Anleitung und Begleitung gefordert, weniger in der Informationsvermittlung.
Zudem muss auch das kooperative Element in der Informationsbeschaffung mitgedacht und mitgeübt werden: Sharing is caring! Gute Informationen müssen miteinander geteilt werden (dürfen).
3. Gemeinsam lernt jede:r besser: Organisiere so viel Zusammenarbeit mit Deinen Mitschüler:innen wie möglich, setzt euer Wissen so oft wie möglich in einem gemeinsamen Lernprodukt um (z.B. PodCast, Video, Flyer, Quiz, Wiki, selbstgestalteter Vorschlag für eine Klassenarbeit…)!
Zu 3. Schüler:innen machen einander besser! Erst wenn Lernende zusammenarbeiten, sich gegenseitig inspirieren und herausfordern, wird „Unterrichtszeit optimal genutzt“. Durch Unterricht, der viel Raum öffnet für die selbstgestaltete (und -genutzte) Interaktion der Lernenden miteinander, werden individuelle Lernbiografien verdichtet.
Dafür muss Unterricht oft produktiv genutzt werden, wofür sich digitale Lernprodukte besonders eignen, da dabei Wissen kollaborativ (und nicht nur kooperativ) transformiert werden kann.
4. Wissen ist wertlos ohne Bedeutung: Suche immer nach Anwendungsmöglichkeiten in Deinem Leben - mache Dich für eine gute Sache stark, setze Dich für Andere ein, verbessere unsere Welt, indem Du Dein Wissen einsetzt.
Zu 4. Was mir in meinem bisherigen Unterricht zu oft gefehlt hat, aber nicht mehr (so oft) fehlen darf, ist der Lebenswelt-Bezug. Schüler:innen sollten Verbindungen schaffen (können) zwischen ihrem Leben und dem „Unterrichts-Stoff“ (hier durchaus negativ konotiert, da ich mich gerne mehr davon lösen würde, aber mir das vor allem in Mathematik nicht ganz leicht fällt). Traditionell wird dafür die Verantwortung bei den Lehrenden gesucht (wie bei der Rolle als Product-Owner), aber damit führe ich erneut meinen Unterricht in das Delfinarium-Szenario.
Insofern ist für mich nach dem Prinzip des Verantwortungs-Flip (ein Posting dazu folgt) primär Aufgaben der Lernenden, die Verbindung zu schaffen, womöglich nicht nur ein Lern-Produkt, sondern die Welt zu gestalten. Lehrende können dazu inspirieren, mitgestalten und unterstützen.
Einladung zum Mitdenken und Mitgestalten
All diese „Prinzipien für Deinen Lernweg“ stehen ebenso wie ihre Bezeichnung selbst auf dem Prüfstand. Ich freue mich über alle, die mitdenken und mitgestalten mögen. Vielleicht wird ja ein gemeinsames Testen dieser oder ähnlicher „Prinzipien“ möglich?
cc by Niels Winkelmann