Zeitgemäße Bildung

Lernende besser machen – wie einst Klinsmann die Bayern?

Von großen Ankündigungen und tiefem Fall: Jürgen Klinsmann und der FC Bayern

Als Klinsmann 2008 als Trainer den FC Bayern München übernahm, kündigte er an: „Ich will jeden Spieler jeden Tag ein bisschen besser machen“. Eigentlich ist diese Aussage trivial. Die Alternativen, die Spieler nur an weniger Tagen besser zu machen, sie gar schlechter zu machen oder stagnieren zu lassen, keine sind Optionen. Sein Vorhaben war somit alternativlos. Das Medienecho war dennoch groß, vor allem wurde ihm seine Ankündigung im Nachhinein vorgehalten – beispielsweise von Günter Netzer.

Bei genauerem Hinsehen können wir über Lernen (und Lehren) viel an dieser Episode verstehen. Eigentlich hatte Klinsmann einen Bildungsanspruch für seine Profis erhoben und unter anderem versucht, dies durch eine anregende Lernumgebung zu erreichen. So gab es Sprachkurse im E-learning-Room, Messageboards mit Tagesabläufen und dazu Yogakurse für die Profis, die anfangs viel Begeisterung zeigten. Im Rahmen von Eigenverantwortung durften die Spieler in der Nacht vor dem Heimspiel sogar im eigenen Bett schlafen – statt wie üblich im Hotel.

Allerdings hat der Anspruch nicht zu den gewünschten Ergebnissen geführt. Letztlich wurden Trainingslager wieder eingeführt, da die Spieler eben nicht immer eigenverantwortlich eine Bettruhe eingehalten haben. Auch die Kurse wurden wieder abgeschafft, da die Nachfrage schnell wieder nachließ. Nach neun Monaten endete Klinsmanns Zeit beim FC Bayern. Er zeigte sich im Rückblick selbstkritisch: „Ich habe das falsch ausgedrückt. Ein Trainer kann nur helfen, damit sich ein Spieler selbst besser macht.“

Die Fußballanalogie zur Schule

Wir halten fest: Nicht der Trainer macht Spieler besser, Spieler müssen sich selbst besser machen. Der Trainer kann nur helfen. Auf die Schule übertragen: Nicht Unterrichtende machen Lernende besser, Lernende müssen sich selbst besser machen, Unterrichtende können nur helfen.

Mit John Hattie gesprochen: „Das Ziel ist, den Lernenden die Fähigkeit zu vermitteln, sich selbst zu unterrichten – ihr Lernen selbst zu regulieren.“ (Lernen sichtbar machen. S. 289] Oder im Sinne von Jöran Muuß-Merholz und nach Michael Schratz gedacht: Wir müssen vor allem Lernen unter der Bedingung von Digitalität „lernseits“ denken. (Routenplaner#digitaleBildung, S. 151f.).

Sein Leistungsmaximum erreicht der Profi nicht allein

Doch für maximale Leistung ist das nicht hinreichend, wie ein Blick in die heutige Fußballwelt zeigt. Wie beispielsweise Niclas Füllkrug vom SV Werder Bremen wird jeder Profi anhand von Sensoren in der Funktionskleidung überwacht. „Anhand der Daten, die in jeder Einheit von jedem Spieler aufgezeichnet und ausgewertet werden, lässt sich genau ablesen, wann ein Spieler eine Ruhepause braucht oder weiter voll belastbar ist.“ Aus pädagogischer Sicht scheint das Teil einer perfekt individualisierten Lernumgebung zu sein. Die Fußballer können immer an die je individuelle Grenze gehen. Das Trainerteam und die Technik können ihm sagen, wieviel Intensität er erreicht hat, in welchen Bereichen er sich noch steigern kann, welche Lernfelder noch welches Potential bieten.

Aber ein Blick ins Home-Office der Fußballspieler verrät, dass trotz beachtlicher Muskelzuwächse wie bei Leon Goretzka in zentralen Bereichen das Leistungsmaximum nicht erreicht wird. Der Sportwissenschaftler Jürgen Freiwald erläutert: „Bei Spielern, die wir mal mit GPS-Daten analysiert haben, hat man gesehen, dass sie bei normalen Sprints ohne Ball auf maximal 89 Prozent ihrer möglichen Beschleunigung gekommen sind. Dann gab es einen Vergleich: Der Trainer stellte sich in die Mitte und spielte den Ball so, dass zwei Spieler die gleiche Chance hatten, ihn zu erreichen. Da waren wir bei 100 Prozent.“ Er führt das also auf die Trainingsmotivation zurück, die erst in der Interaktion mit anderen Spielern voll durchschlägt.

Wir halten zusätzlich fest: Nicht der Trainer macht Spieler besser, Spieler müssen sich selbst besser machen. Spieler fordern einander zur Höchstleistung heraus. Der Trainer kann nur dabei helfen. Auf die Schule übertragen: Nicht Unterrichtende machen Lernende besser, Lernende müssen sich selbst besser machen. Lernende machen vor allem einander besser! Unterrichtende können nur helfen.

Genau das sagt meine pädagogische Erfahrung aus dem klassischen Unterricht und der Corona-Zeit: Es hilft nur partiell, wenn ich die Kinder mit binnendifferenzierten Aufgaben fordere und fördere, auch reine Selbststeuerung hat ihre Grenzen, es fehlen die Impulse aus der Klasse, das gegenseitige Sich-Herausfordern.

Einander fordern im Unterricht durch 4K – aber auch kompetitiv

Diese Sicht auf Unterricht beinhaltet auch der oft genannten 4K-Ansatz. Hier allerdings bleiben Kreativität und kritisches Denken außen vor, stattdessen kommt es auf Kollaboration und Kommunikation an. In der Auseinandersetzung mit anderen Ideen, anderen Konzepten, anderen Darstellungen und Darstellungsformen, anderen Formulierungen steckt enorm viel individuelles Herausforderungspotential. Wenn ich mit anderen kommuniziere und kollaboriere, gleiche ich laufend meine Ideen und Vorstellungen mit den anderen ab. Dabei setze ich Impulse für die anderen und muss ebenso auf die Impulse der anderen reagieren. In dieser Interaktion fordern wir einander.

Dieses gilt aber nicht nur für den kooperativen Ansatz, sondern auch für den kompetitiven. Dieser fehlt mir persönlich beim 4K-Ansatz, weil auch das Sich-miteinander-Messen ein großer Reiz ist. Damit meine ich nicht das traditionelle 4-Ecken-Rechnen meiner eigenen Schulzeit und auch nur bedingt Rechenwettbewerbe. Vielmehr hat jeder Wettbewerb, jedes Sich-gegenseitig-Herausfordern (ob es um eine Formulierung, ein Konzept oder einen Lösungsweg geht) aus meiner Sicht einen hohen Effekt – analog zur Beobachtung des Sportwissenschaftlers Freiwald im Fußball.

Einander fordern – Konkret im Deutschunterricht

Konkret sichtbar wird die Stärke von dieser Interaktionsformen in meinem Deutschunterricht beispielsweise in Schreibkonferenzen. Schülerinnen und Schüler setzen sich mit den Texten der anderen auseinander. Sie achten auf unterschiedliche Aspekte (natürlich individuell, aber oft durch geführte Anleitung). Sie geben einander Feedback. Sie lernen voneinander. Sie fordern einander durch die eigenen Texte und lassen sich von fremden Texten herausfordern.

Das ist mir digital noch nicht optimal gelungen, aber die Idee ist klar: In Kleingruppen werden geteilte Lernprodukte gewürdigt und (mehr oder weniger) kriteriengeleitet reflektiert. Technisch könnte das in Lern-Management-Systemen (LMS) wie beispielsweise ILIAS oder moodle ebenso gelöst werden wie durch einander freigegebene Dokumente. In der Unter- und Mittelstufe könnte ich das in einem LMS als geschützem Raum besser begleiten und anleiten (analog zum Ansatz des begleiteten Klassenchats bei Wampfler, 27:18-30:18). Hier (oder bei einer späteren Einführung dieser Form des Arbeitens) ist ein angeleitetes und strukturiertes Vorgehen notwendig, um Peerfeedback angemessen und sinnvoll geben zu lassen.

Spätestens in der Oberstufe muss hingegen ein wichtiges Element sein, den Gruppen die Wahl von Dokumenten- und Kommunikationsplattform zu überlassen und sich als betreuender Lehrer stärker zurückzuziehen. Dann könnte ein digitales Gruppenportfolio mit anschließendem Noten-Pool eine Möglichkeit sein, die Eigenständigkeit von Gruppen und Einzelnen zu befördern. Vor allem ist der Ansatz sinnvoller ausgerichtet als die während Corona weit verbreitete Methode, Aufgaben per Mail zu verschicken oder beispielsweise in IServ einzustellen und die Ergebnisse durchzukorrigieren.

Nicht Unterrichtende machen Lernende besser, Lernende müssen sich selbst besser machen. Lernende machen vor allem einander besser! Unterrichtende können nur helfen.

Oder um es mit Krommer/ Wampfler/ Klee zu sagen: „So viel Peer-Feedback wie möglich, so viel Feedback von Lehrenden wie nötig.“

Einander fordern – das Umfeld entscheidet (mit)

Inwieweit neue Ansätze erfolgreich sein können, entscheiden nicht nur die Akteure selbst, sondern auch das Umfeld. So scheiterte Klinsmann auch an der Skepsis der Münchner Bürger und Politiker, die in seinem Ansatz, das Klubgelände mit Buddha-Statuen zu gestalten, einen religiösen Kulturkampf sahen.

Analog benötigt ein Unterrichtskonzept die Unterstützung durch das Umfeld. Die Lernenden müssen den Ansatz nachvollziehen und die Methodik einüben, um den Unterricht produktiv für sich nutzen zu können. Das ist Teil des Meta-Lernens, eine Dimension aus „Die vier Dimensionen der Bildung“, die wir bereits in einem anderen Post thematisiert haben.

Die Eltern müssen (besonders in den jüngeren Klassen) den Ansatz verstehen, um ihr Kind angemessen begleiten zu können. Hierzu gibt es einen schönen Ansatz in Bonn.

Vor allem müssen Kollegium und Schule eine gemeinsame Idee von Schule und Unterricht haben. Einzelne unverbundene Projekte können ohne Synergieeffekte „kaum Wirkung auf Schülerleistungen erzielen“ (H.-G. Rolff: Schulentwicklung kompakt. S. 163).

Nicht Unterrichtende machen Lernende besser, Lernende müssen sich selbst besser machen. Lernende machen vor allem einander besser. Unterrichtende und Schule können nur helfen.

Zugleich können aber auch Leuchtturmprojekte Wirkung erzielen. So hat Klinsmann mit vielen Dingen die Grundlage für den heutigen FC Bayern gelegt. Seine Innovationen wirken in vielen Dingen bis heute nach und haben den Grundstein für die moderne Klubzentrale gelegt.

Zum Ausblick: Antrieb und Motivation

Den letzten Impuls möchte ich Jürgen Klinsmann überlassen, sein Zitat war bisher verkürzt: „Ein Trainer kann einen Spieler nicht besser machen. Der Antrieb muss beim Spieler selbst liegen.“

Worüber wir also nicht gesprochen haben, ist der Antrieb der Lernenden. Aber das sei Thema eines anderen Posts.

4 Kommentare zu „Lernende besser machen – wie einst Klinsmann die Bayern?

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