Zeitgemäße Bildung

Blinde Flecken finden: Reflexion mit Oncoo.de

Für meinen Unterricht habe ich den Anspruch, dass er für meine Lerngruppe und mich sinnvoll gestaltet sein soll. Da ich dabei viele neue pädagogische Ansätze einbringe, ist mir Feedback aus den Lerngruppen wichtig. Neben vielen Gesprächen über Meta-Lernen, die ich mit den Lerngruppen und mit einzelnen Lernenden führe, ist es mir auch wichtig, regelmäßig gemeinsam innezuhalten und zu reflektieren. Früher habe ich das mit Fragebögen zu von mir definierten Aussagen gemacht, die ich von Papier abgetippt, danach statistisch ausgewertet und später besprochen habe. Heute mache ich das ohne feste Items, in Echtzeit – mit Oncoo.de.

Erstellt mit DallE 3

Grundlegend: Meine Vorstellung von Feedback

Für mich lautet das Grundprinzip von Feedback:

Feedback soll jemandem helfen, sich selbst und seine Wirkung auf andere zu verstehen.

Dieses Prinzip gilt wechselseitig in Schule, da es ebenso für die mir anvertrauten Kinder und Jugendlichen wichtig ist, sich selbst und ihre Wirkung auf andere zu verstehen, wie für mich. Nicht nur meine Lernenden entwickeln sich weiter, auch ich – zumindest in meiner Lehrerrolle. Daher wünsche ich mir eine Feedbackkultur, in der sich alle an Schule Beteiligten anlasslos Feedback geben können und habe als Wunschvorstellung formuliert:

„Anlassfreies Feedback ist integraler Bestandteil von Schule.“

Niels Winkelmann

Reflexion muss gelernt und geübt werden

Um Reflexion mit Kindern zu üben, gibt es verschiedene Optionen, die ich in jüngeren Lerngruppen durchführe. Beispielsweise können sich Lernende je nach Zustimmung zu einer Aussage („Ich habe heute viel gelernt“) auf dem Stuhl positionieren, sich also bei großer Zustimmung auf den Stuhl stellen oder bei Ablehnung auf den Boden setzen. Oder sie positionieren sich auf einer Meinungslinie im Raum – dann ist auch ein Austausch zwischen Gleichgesinnten durch eine Murmelphase möglich, dazu kann ich als Lehrer einladen, jede Positionierung noch zu kommentieren – so üben wir die Verbalisierung über eine reine Positionierung hinaus.

Zugleich mache ich durch diese Formate die Ergebnisse transparent, die Mitglieder innerhalb der Lerngruppe bekommen voneinander mit, wie sie zu den Aussagen stehen. Dabei besteht natürlich auch die Problematik, dass diese Transparenz zu Verzerrungen führt: Wenn Meinungsführende extreme Positionen beziehen, folgen oft einige Mitglieder der Gruppen.

Reflexion mit Standardfragen

Eine gute Option kann natürlich auch der Weg sein, Lernende standardisierte Fragebögen ausfüllen zu lassen. Damit vermeide ich (weitgehend) diese Verzerrungsaspekte. Zugleich erzeuge ich Vergleichswerte, mit deren Hilfe ich beispielsweise meinen Unterricht in verschiedenen Lerngruppen analysieren kann – oder die Rückmeldungen von Lerngruppen unterschiedlicher Lehrkräfte, sogar an unterschiedlichen Schulen.

Spannend auch das kostenlose Portal des Landes Niedersachsen, bei dem die Lehrkräfte die Fragen aus ihrer Sicht beantworten und dann ihre eigenen Einschätzungen mit den Rückmeldungen aus der Lerngruppe abgleichen können. Diese Ergebnisse habe ich dann transparent gemacht, indem ich sie für die Klasse projeziert habe.

Auf ausgetretenen Pfaden kommt man nur dort an, wo andere schon gewesen sind

Dennoch bleibt für mich nach jahrelanger Erfahrung ein Problem: Für mich sind die Ergebnisse eine Sackgasse, da ich die Ergebnisse zu den gestellten Fragen gut antizipieren kann. Die Ergebnisse meiner eigenen Fragebögen haben mir die Stärken und Schwächen gut verdeutlicht, auch die Korrellation zwischen den Ergebnissen von meiner Einschätzung und der meiner Lerngruppen ist hoch:

Quelle: Auszug aus der Auswertung des Portals

Ich bin allerdings oft auf neuen Pfaden unterwegs bin, weil meine Vorstellungen vom Lernen nicht dem traditionellen Lernen entsprechen:

Quelle: Lernen 2021

So haben einige Items („Bei meinem Lehrer bleibt es im Unterricht ruhig, wenn Materialien (z.B. Arbeitsblätter, Tippkarten) ausgeteilt werden.“) in einer iPad-Klasse mit einer anderen Lernkultur und der zugehörigen digitalen Organisation keine Relevanz mehr.

Manche Fragen wiederum kollidieren mit meinen pädagogischen Vorstellungen: „Am Ende einer Unterrichtsstunde fasst mein Lehrer zusammen, was wir in dieser Stunde gelernt haben.“ Dieses Vorgehen passiviert meines Erachtens Lernende, weil sie sich zunehmend darauf verlassen, dass ich am Ende eh das anschreibe, was sie lernen sollen (Was auch den Begriff des Lernens einerseits auf „richtigen“ Stoff reduziert, andererseits auf die kognitiv-rationale Ebene). In einer Kultur der Digitalität lasse ich eher Lernende Fazits kollaborativ in Etherpads (z.B. in IServ oder bei https://kits.blog/tools/) ziehen, zu denen ich wiederum Rückmeldungen gebe.

Auf dem Weg zu neuen Ufern: „Bring mich an den Horizont!“

Auch wenn die Fragen anders zu formulieren wären, brauche ich letztlich interpersonales Feedback von meinen Lernenden: Nur wenn ich mit meinen Lernenden ernsthaft das Lernsetting (aka „meinen Unterricht“) offen und transparent reflektiere, können sie mich auf blinde Flecken hinweisen. Dann bekomme ich Antworten auf Fragen, die ich nicht gestellt habe:

(Screenshot: oncoo.de)

So hat diese Lerngruppe mich freundlich daran erinnert, dass ich meine Aufgaben als Tutor nicht optimal wahrgenommen habe und die Klausurkorrektur lange gedauert hat.

Diese Lerngruppe haderte hingegen mit der ausgeprägten Projektmethodik – und ebenso mit längeren Krankheits- und Korrekturphasen. An dem krankheitsbedingten Ausfall konnten wir alle nichts ändern, zugleich war es wichtig, dass es zur Sprache kam. Ebenso wie bei der Meinungslinie muss reflektieren geübt werden, damit Kritik sagbar wird – und die Erfahrung von Kritikfähigkeit gemacht wird (Insofern bin ich doppelt dankbar für die Rückmeldung des Kurses).

Reflektieren mit Oncoo.de: eine Anleitung

Mit Lerngruppen in der Oberstufe, bisweilen auch in der 9./10 Jahrgangsstufe gehe ich dabei wie folgt vor: Ich erkläre kurz oncoo als Tool, zeige ihnen, dass sie zunächst ein neues Oncoo erstellen müssen.

(Screenshot von Oncoo.de)

Danach müssen sie die Zielscheibe wählen:

(Screenshot von Oncoo.de)

Schließlich müssen sie die Formulierungen ändern, können Aspekte löschen oder hinzufügen:

(Screenshot von Oncoo.de)

Danach lasse ich den Kurs mit der Aufgabe alleine, damit sie gemeinsam die Items („Aspekte“) formulieren. Bisweilen setze ich auch ein Taskcard auf, damit der Kurs vorab Formulierungen sammeln kann – das führt dann dazu, dass auch zuviele Iteams formuliert werden. Meistens dauert das 10-15 Minuten, in denen die Lernenden zunächst diskutieren, dann die Abstimmung vorbereiten und durchführen. Wenn ich wiederkomme, schauen wir gemeinsam auf die Ergebnisse, ich kommentiere die Daten aus meiner Sicht, die Lernenden ergänzen das oft um Aspekte, die ich hinter den Zahlen oder Formulierungen nicht gesehen habe.

Ins gemeinsame Nachdenken kommen mit Lernenden

Für mich hat dieses Vorgehen mehrere Vorteile. Zunächst ist das neben der Transparenz in meinem Vorgehen das Reden über Unterricht. Lernende müssen in der Diskussion über die Formulierung von Items ihre Perspektive auf meinen Unterricht in Worte fassen. So kommen sie gemeinsam ins Gespräch und Reflexionskategorien werden ebenso sagbar wie Qualitätsmerkmale. Bisweilen zeigen die Zielscheibe (und die Sigma-Werte) durchaus divergierende Einschätzungen: Was einige Lernende schätzen, missfällt anderen. Dadurch bringe ich meine Lernenden bereits auf die Meta-Ebene, die Diskussion über Lernen und Unterricht.

Zudem können die Mitglieder der Lerngruppe im vertiefenden Gespräch auf die Meinung der anderen verweisen. Da sie sich vorher ausgetauscht haben, können sie aus der „Wir-Perspektive“ sprechen (und diese natürlich auch zweckentfremden, aber das ist ein anderer Punkt).

Vor allem schauen meine Lernenden aus ihren unterschiedlichen Perspektiven auf das Unterrichtsgeschehen und zeigen mir immer wieder meine blinden Flecken: Was brauchst Du, um hier zu lernen? Auf diesem Weg wird gemeinsame Reflektion von Lernen möglich. So können meine Lernenden eben auch mich und meine Wirkung auf ihr Lernen zur Sprache bringen – ob situativ oder in der gemeinsame Reflexion.

cc by Niels Winkelmann