Wertvolle Erfahrungen: Wissen aus erster Hand
Als Unterrichtende stehen wir immer vor der Frage, wie wir etwas den Kindern am Besten verstehbar machen können. Die Idealvorstellung liegt selbstverständlich im vielzitierten „Lernen mit Herz, Hand und Verstand“ nach Pestalozzi: Wenn Kinder emotional an das Thema gebunden sind, ihre Sinne und den Verstand einsetzen, verstehen sie tiefgehender und nachhaltiger. Wenn Kinder beispielsweise eine Kuh nicht nur im Biologiebuch sehen und die zugehörigen Erklärungen lesen, sondern in den Stall gehen, sich von den Tieren, ihrer Größe und Wärme, ihrem weichen Fell und dem sanften Gemüt begeistern und nicht vom Geruch stören lassen, dann verstehen sie das Thema anders und tiefgehender. Dann behalten sie die Informationen deutlich länger. Wenn sie sogar selbst versuchen dürfen, eine Kuh zu melken, dann werden sie immer wissen, woher die Milch kommt. Diese wertvollen Erfahrungen werden Primärerfahrungen genannt, weil die Informationen aus erster Hand kommen und deutlich nachhaltiger gelernt werden.
Erfahrungen von unterschiedlichen Graden
Der amerikanische Hochschulprofessor Edgar Dale entwickelte bereits 1946 intuitiv sein Modell des Erfahrungskegels, wonach auf einer ersten Stufe beispielsweise Primärerfahrungen als direkte Erfahrungen zu verorten sind. Das ist schulisch auch eine körperliche Erfahrung im Sport-, Musik oder Kunstunterricht, ein Modell wie das Skelett in der Biologie, das Sezieren oder ein selbst durchgeführtes Experiment.
Auf der zweiten Stufe ordnen sich die „ikonischen“ Darstellungen wie beispielsweise Bild- und Tondokumente, Videos oder auch Ausstellungen sowie vorgeführte Experimente ein. Auf der dritten Stufe stehen vor allem Buchstaben und Zahlen, deren Symbolik erst übersetzt werden muss. Bilder verstehen wir intuitiv, Buchstaben und Zahlen muss man erst erlernen. Somit werden die Unterrichtsmedien von Stufe zu Stufe komplexer, sprechen aber auch weniger Sinne an. Besonders die dritte Stufe konzentriert sich auch das Sehen.
Die Tendenz geht mit zunehmender Altersstufe zum Text als zentralem Medium
Als Lehrer begegnet uns diese Problematik im Unterricht in Richtung Oberstufe zunehmend, weil sich abstrakte Gedanken wie Kants kategorischer Imperativ oder der Aufbau eines Atoms nicht mehr anfassen lassen. Natürlich kennt die Chemie in diesem Fall auch Modelle, die bei der Vorstellung helfen. Aber spätestens beim Kategorischen Imperativ ist dann auch höchstens ein Schaubild denkbar. Zudem hat das Mitbringen von Modellen ebenfalls Grenzen, weil es schlicht aufwändig ist und Modelle nicht immer vorrätig sind. Daher ist die Erfahrung besonders in den Geisteswissenschaften wie Geschichte und Religion, dass der Unterricht zunehmend textlastig wird. Texte sind schließlich die dominanten Medien, in denen das Wissen über Jahrhunderte aufbewahrt, weitergegeben und gelehrt wurde.
Chancen der modernen Medien: weniger Text, mehr grafische Erfahrungs- und Gestaltungsmöglichkeiten
Natürlich wollen wir als Unterrichtende einen Unterricht mit verschiedenen Medien und verschiedenen Wahrnehmungsebenen, mehr als nur Hören und Sehen, am liebsten auch Tasten, Riechen und Schmecken. Wahrscheinlich sind auch deshalb chemische Experimente so eindrücklich – wenn es knallt und stinkt. Aber wenn keine Primärerfahrung zu einem Thema im Rahmen des Unterrichts möglich ist (oft auch aufgrund der Themenfülle), haben wir mit den neuen Medien eben die wunderbare Chance, mehr als ein gutes Schulbuch bieten zu können. Über die Lehrfilme hinaus (grundsätzlich nicht neu) können wir die Kinder selbst aktivieren: Sie können sich beispielsweise in Geschichte mit der TutTomb 360 (für iOS oder Android) in einem alten ägyptischen Grabmal umsehen. Sie können anhand von Beschreibungen in dem Spiel MineCraft eine Pyramide nachbauen und diese der Klasse vorführen. Sie können in Biologie vielleicht selbst einen Bauernhof besuchen, dort mit ihrem Handy oder ihrem Tablet die Tiere filmen und von ihren Erfahrungen aus erster Hand berichten. Vielleicht bereiten sie dafür sogar eine Präsentation oder einen ganzen Film für ihre Klasse vor.
Und zugleich sollen die Kinder auch die Auseinandersetzung mit traditionellen Texten aus erster Hand erfahren und nicht nur eine Zusammenfassung lesen. Beispielsweise Kant sollten sich Abiturientinnen und Abiturienten einmal selbst erarbeitet haben. Doch auch das kann ganz anders aussehen als die traditionelle Zusammenfassung. Auch hier bieten digitale Werkzeuge tolle Lernchancen, doch dazu mehr in den nächsten Posts.
Neue Medien in der Balance zwischen Primärerfahrung und Textlastigkeit: Visualität als Lernchance
Interessant ist Dales Erfahrungskegel hinsichtlich der medialen Entwicklung. Besonders in den sozialen Medien, aber auch grundsätzlich zeichnet sich ab, dass traditionelle, sogenannte „lineare“ Texte in ihrer Funktion als Hort des Wissens ergänzt und womöglich abgelöst werden – beispielsweise durch „Hypertexte“, also verlinkte Textdokumente, oder Podcasts, Videos oder Fotos. So sind Informationen zum Teil nur über YouTube-Videos, Instagram-Posts oder Podcasts verfügbar und liegen nicht gleichwertig in Textform vor. Ebenso zeigt die Unterrichtspraxis, dass die aktive Gestaltung von Lernprodukten, in denen die Kinder ihr Wissen als Video, Audio oder als komplexes Medienprodukt aufbereiten, eine hohe Lernmotivation freisetzt – und zugleich inhaltlich anspruchsvolle Ergebnisse hervorbringt. Beide Phänomene liegen dabei in der zweiten Ebene zwischen Primärerfahrung und Textlastigkeit. Vielleicht treffen sich da Medienentwicklung und hochmotivationale Lernchance?
Ein Kommentar zu „Wir lernen immer alles durch Medien – sowohl digitale als auch analoge“