Mit dem Whiteboard-Tool von Flinga.fi habe ich dieses Schuljahr in vier Oberstufen-Kursen eröffnet. Zugegeben, methodisch ist ein erstes Brainstorming nichts Neues. Allerdings hat mich die digitale Variante gereizt – weil ich mehr digitale Tools kultivieren möchte. Und weil ich in diesem Schuljahr sowohl die Selbststeuerung der Schüler:innen als auch Kollaboration und Kommunikation stärker forcieren möchte.
In der Praxis hat mich irritiert, dass in einer Gruppe die Löschfunktion so intensiv genutzt wurde, dass die Zusammenarbeit zunächst scheiterte. Das ist als „digitale Pubertät“ erklärbar, rückt aber auch die Gruppendynamik in den Fokus. Außerdem stellen sich die Fragen nach angemessenem Umgang mit „Störung der Kollaboration durch Löschen“ und nach der Arbeit im Flinga mit gleichzeitiger Kommunikation im Klassenraum:
Brainstorming mit Flinga als Themeneinstieg: Inhalte und Beobachtungen
Eine Stärke des Whiteboards auf Flinga.fi (hier ein kurzes Tutorial von Nele Hirsch) ist der Fokus auf wenige, aber sehr kollaborative Möglichkeiten. Ich habe in einer kurzen Erklärung die Möglichkeit des Zeichnens ausgeblendet (für mich wichtiger in plenarer Auswertung). Daher habe ich nur gezeigt, wie man kleine Notiz-Zettel mit unterschiedlichen Farben beschriften und verbinden kann. Inhaltlich ging es um
- Aufklärung (als Wiederholung und Standortbestimmung im neuen Prüfungskurs),
- Medien (als erste Annäherung im neuen Seminarfach),
- Gottesvorstellungen (als Einstieg im neuen Leistungskurs) und
- mögliche medienpraktische Projekte (als Abschlusshalbjahr eines bestehenden Seminarfachkurses).
Die Kurse haben sehr schnell die weiteren Optionen (Formen der Zettel, Bilder einfügen) getestet und zudem umfangreiche Grafiken erstellt. Insofern war das Brainstorming methodisch effektiv und zielorientiert. Nach dem gemeinsamen Sammeln und Sortieren der Assoziationen folgte jeweils eine kurze Reflexion. Während ich die meisten Reflexionen inhaltlich ausgerichtet habe, gab es im Seminarfach „Medien“ zusätzlich einen methodische Reflexionsfokus – das Tool war dort zugleich Inhalt. Neben der inhaltlichen Beobachtung, dass der Medienbegriff insgesamt stark auf die negativen Seiten von Social Media verengt war, wurden besonders die kollaborativen Möglichkeiten gelobt: Der Kurs hatte die Erfahrung gemacht, dass gut gemeinsam gearbeitet wurde.
Zugleich kam aber die methodische Anfrage, ob im Flinga nicht Oberbegriffe vorgegeben werden sollten. Denn das Flinga war sehr unübersichtlich. Dahinter stand allerdings eine mittelfristige didaktische Entscheidung: Wir werden in den nächsten Stunden gemeinsam ein Wiki gestalten, dafür wollte ich keine Struktur vorgeben.
Grenzen der freien Kollaboration oder digitale Pubertät?
Spannend an der methodische Anfrage ist auch, dass ich ausdrücklich auf die Möglichkeit hingewiesen habe, neben dem Flinga (als eher asynchrones und synchron potentiell zu dynamisches Tool) auch die Möglichkeit der (synchronen) Kommunikation im Kurs zu nutzen. Diese Möglichkeit wurde aber kaum genutzt. Ich hatte das für mich damit erklärt, dass es die erste gemeinsame Stunde war. Dennoch wäre hier sicherlich Potential für erste Oberbegriffe gewesen.
In einem anderen Kurs musste ich im Flinga letztlich die Option beschränken, Objekte anderer zu kontrollieren. In allen Kursen hatte ich vorab nur die Bitte formuliert, keine fremden Objekte zu löschen, bei inhaltlichen Dopplungen das Gespräch im Kurs zu suchen. Das hat fast überall gut funktioniert. Aber in diesem Kurs führte das Flinga ins Chaos. Erst nachdem nur noch eigene Objekte kontrolliert werden konnten, wurde die Arbeit produktiv bzw. zielorientiert (die Frage nach Produktivität ist komplex, auch scheinbar sinnlose Vorgehen können sich als produktiv erweisen; aber hier war der Verlauf destruktiv und für viele Gruppenmitglieder frustrierend). Auch hier wurde die mündliche Kommunikation mit vielen nicht genutzt, obwohl der Kurs seit einem Jahr besteht.
Die Nutzung der Löschfunktion konnte ich in einer anderen Lerngruppe in einem Taskcard beobachten: Hier wurden so lange Einträge gelöscht, bis ich pro Kleingruppe eine eigene Spalte eingerichtet habe, für die nur sie Schreibrecht hat. Ich kann diese Phänomene natürlich als „digitale Pubertät“ einordnen, die Jöran Muuß-Merholz für die reizvolle Videoimpulsreihe des NLQ erläutert: Offenbar müssen „alle einmal selbst die verschiedenen Möglichkeiten ausprobieren, alle Funktionen und alle gleichzeitig.“ Auch wenn in dieser Erklärung der Fokus auf Erwachsenen mit PowerPoint liegt, könnte das auch für mich ein Erklärungsansatz sein: „Sie müssen eigene Erfahrungen machen, Grenzen ausloten, über die Strenge schlagen, sich Vorbilder suchen und aus ihren Erfahrungen lernen.“
Nur eine Phase: Eine Frage der Gruppendynamik?
Als Phase wäre das auch irgendwann vorbei. Ich habe in der ersten Gruppe aber schon im vergangenen Jahr ähnliche Erfahrungen gemacht bei einer sli.do-Word-Cloud (was damals schon für mich unter Ausprobieren lief). Da stellt sich die Frage, inwiefern dieses Phänomen gruppenspezifisch sein kann. Womöglich ist es sogar eine stabile Eigenschaft einer Gruppen, die beispielsweise zum Ausloten von Grenzen neigt. Es könnte Teil der Gruppenidentität sein.

(Quelle: http://www.teachsam.de/paed/gruppe/paed_grupu/paed_grup_unt_8_3.htm)
Vielleicht spielt dabei auch die Gruppendynamik eine Rolle. In allen Gruppen ohne Restriktionen war die Zusammensetzung neu. Diese Gruppen waren gerade in der Kennenlernphase, dem „Forming“. Rollen innerhalb der Gruppe (beispielsweise der „Klassenclown“) waren also noch nicht geklärt (Folgt in Phasen 2 und 3), eine Gruppenidentität (z.B. Aspekte wie Selbstironie) noch nicht geklärt (Phasen 3-5). Dort könnte die stabile Eigenschaft in der Gruppenidentität verankert worden sein. Dann müsste dieses Phänomen entsprechend situativ und auf der Beziehungsebene verhandelt werden.
Eine weiterführende Frage könnte sein, inwiefern neue digitale Tools als pubertärer Schub wirken. Wenn dadurch auch ein Schub in der Identitätsfindung der Gruppenmitglieder erfolgt, könnte sich die Statik innerhalb der Gruppe verschieben, also eine neue Rollenklärung (Phase 2-4) einsetzen – wenn beispielsweise bisher akzeptierte Rollen nicht (mehr) eingenommen werden. So müsste die Gruppe potentiell digital wiederholt laufen lernen. Dann wirken die Impulse im virtuellen Raum sehr konkret in die Gruppendynamik hinein.
Deutung als destruktives Verhalten?
Ebenso könnte es aber auch an einzelnen Charakteren liegen. Wie im Artikel „Jenseits des Delfinariums“ könnte man dementsprechend das Verhalten schnell als (un)bewusst destruktives Verhalten, als (gezielte) Störung einordnen. Diese Einordnung ist logisch nachvollziehbar, aber für die Reaktion ist es nicht entscheidend, wie absichtsvoll und gezielt das als Störung wahrgenommene Verhalten war. Vor allem möchte ich nicht mit Sanktionen reagieren.
Denn eigentlich geht es nur um die Frage, wie „könnten wir auch kreative Energie kanalisieren und Destruktion durch Schülerinnen und Schüler verhindern. Nicht nur Computer-Hacking, sondern auch Angriffe auf Mobiliar und Gebäude, auf Mitschüler und Lehrkräfte, Störung von Präsenzunterricht und Zoom-Bombing.“ Dafür kann ich nur positive Wege gehen, indem ich sie basierend auf maslow’schen „sozialen Bedürfnissen“ wie der Gemeinschaft erreiche – oder auf seiner obersten Ebene von „Freiheit und Selbstverwirklichung“.
So möchte ich Schüler:innen begeistern. Denn/ aber das funktioniert nicht mit Sanktionen. Ich möchte das Verhalten auch nicht ignorieren, sondern thematisiere die Probleme, die sich ergeben. Zugleich möchte ich vor allem die „störenden“ Schüler:innen von der Wirksamkeit dieser Methode überzeugen – und damit auch von der Selbstwirksamkeit der Gruppe.
So viel Freiheit und Vertrauen wie möglich, so wenig Kontrolle und Struktur wie nötig
Dabei stehe ich vor einem Dilemma. Die neue Methode soll sich als wirksam erweisen. Sie kann sich aber erst als wirksam erweisen, wenn die Schüler:innen Vertrauen in sie haben. Im Kern geht es also um etwas, was ich „digitale Primärerfahrung“ nenne: Abstrakt gesprochen eine Erfahrung im digitalen Raum. Die (Teil)Erfahrung, dass etwas in der digitalen Welt trägt. Hier: dass unser Flinga ein Weg ist, auf dem sich alle einbringen können, wobei am Ende ein produktives Ergebnis entsteht. Insofern möchte ich nicht (im Hinblick auf die Verstärkerthese) nach vollständiger Kontrolle greifen und in ein LMS mit Log-Dateien über Zugriffe und Aktionen wechseln. So würde ich entweder durch Abschreckung oder durch nachträgliche Ermittlungsarbeit die „Störenfriede“ aus dem Spiel nehmen. Dann nehme ich sie aber ganz aus dem Spiel, weil sie auch keine positive Erfahrung mitnehmen.
Ich möchte daher versuchen, das Vertrauen in die digitalen Tools und die zugehörigen Methoden zu stärken. Daher habe ich nur vorläufig die Rechte eingeschränkt, um ein produktives Ergebnis zu erzielen und mit partieller Wirksamkeit zu überzeugen. Beim nächsten Mal werde ich vorher mit der Gruppe die Rechtefrage diskutieren, um langfristig mit weniger oder ohne Einschränkungen arbeiten zu können. Damit die Gruppe ohne Stütze digital laufen kann.
Bleibt letztlich vor allem noch ein Thema offen: Wie kann ich methodisch für mehr Interaktion im Klassenraum neben der Interaktion im Flinga sorgen? Erwarte ich da zu viel, wenn ich viel Interaktion auf beiden Ebenen erwarte? Reicht nicht am Ende ein tolles Flinga? Aber wir waren nicht unbedingt zufrieden, aus meiner Sicht auch, weil das Gespräch (noch) zu wenig gesucht wurde. Im neuen Kurs…
cc by Niels Winkelmann
2 Kommentare zu „Starten mit Flinga. Oder: Müssen Gruppen digital laufen lernen?“