
Weniger Distribution des Lernens, mehr reflektierte Entwicklung
Jede Lehrkraft, die Chatbots wie ChatGPT nutzt, spürt sofort, dass traditioneller Unterricht keinen Bestand haben wird. Denn traditioneller Unterricht ist aufgabenbasiert: Im Schulbuch sind zu Thema und Material verschiedene Aufgaben vorgesehen. Wenn diese sinnvoll bearbeitet werden, gilt das Thema als hinreichend verstanden. So funktioniert(e) ein großer Teil des Unterricht, aber auch jede Klassenarbeit.
Daher versuchen wir zu verhindern, dass Hausaufgaben von Eltern gemacht oder im Bus abgeschrieben werden – oder Klassenarbeiten vom Nachbarn. Dabei ist allen Beteiligten klar, dass wir auch darüber reden sollten, warum (und ob) diese Aufgaben sinnvoll sind. Aber nun wird deutlich: Wenn ein Chatbot solche Aufgaben in Sekunden lösen kann, wieso sollten Kinder das aufwändig üben? Wenn Taschenrechner Teil des Mathematikunterrichts sind, sollten Chatbots nicht auch Teil des Unterrichts sein?
Wozu Bildung?
Anders als Bob Blume in seinem Buchtitel fragt: „Warum noch lernen?“, sollte die Frage lauten, wozu wir Bildung brauchen. Nicht die Frage nach konkreten Gründen für Lernen, sondern nach dem Sinn von Bildung hilft, Schule und andere Bildungseinrichtungen so zu denken, dass Lernen auch und besonders mit KI als zeitgemäß erlebt wird.
Diese Frage nach dem Sinn beantwortet unsere Demokratie in den Schulgesetzen der Länder mit entsprechenden Werten. Niedersachsen nennt als Ziel von persönlicher Entwicklung die „demokratische Gestaltung der Gesellschaft“ zuerst, danach auch Solidarität und Toleranz, Umweltschutz, Konfliktfähigkeit und die Mitgestaltung des sozialen Lebens sowie selbstständiges, individuelles und gemeinsames Lernen. Bildung ist nicht wertneutral. Jede Schule, aber auch jede Lehrkraft kann und muss eigene Prioritäten setzen. Schulen entwickeln dafür Leitbilder, innerhalb derer wir Lehrkräfte uns bewegen.
Meine Vorstellung von schulischen Lernen
Ich habe meine persönliche Idee vom Lernen in vier Prinzipien (vgl. Winkelmann 2021) formuliert, die für Chatbots nur um einen Punkt zu ergänzen ist. Meine Vorstellung setzt bei den Lernenden an, die für ihre persönliche Entwicklung ergründen müssen, wie sie gut und selbstgesteuert lernen. Zugleich sollen sie alle verfügbaren Medien nutzen und oft mit anderen zusammen lernen, was oft in der Produktion von Medien und anderen projektorientierte Arbeitsformen mündet:
Prinzipien für Deinen Lernweg
1. Du bist Spezialist:in für Deinen Lernweg: Bestimme Dein Lerntempo, Dein Niveau, Deine Lernstrategie! Setze Dir Ziele!
2. Das schulische Wissen ist kein Geheimnis, es steht in Büchern und im Internet: Informiere Dich, sammle die besten Informationen und teile sie mit Deinen Mitschüler:innen!
3. Gemeinsam lernt jede:r besser: Organisiere so viel Zusammenarbeit mit Deinen Mitschüler:innen wie möglich, setzt euer Wissen so oft wie möglich in einem gemeinsamen Lernprodukt um (z.B. PodCast, Video, Flyer, Quiz, Wiki, selbstgestalteter Vorschlag für eine Klassenarbeit…)!
4. Wissen ist wertlos ohne Bedeutung: Suche immer nach Anwendungsmöglichkeiten in Deinem Leben – mache Dich für eine gute Sache stark, setze Dich für Andere ein, verbessere unsere Welt, indem Du Dein Wissen einsetzt.
Was nicht in den Prinzipien formuliert ist, aber untrennbar damit verbunden ist, ist die Reflexion der Ergebnisse, aber auch der Arbeitsprozesse.
KI als Verstärker: Persönliches statt personalisiertem Lernen
„Digitale Medien fungieren als extrem mächtige Verstärker für Vorhandenes“
Jöran Muuß-Merholz (2019), S. 7
Diese Verstärkerthese zeigt sich auch bei Chatbots:
Diese können bei der Unterrichtsvorbereitung helfen, indem Arbeitsblätter mit wenigen Klicks individualisiert, aber auch auch im Hinblick auf Sprach- und Leistungsniveau binnendifferenziert gestaltet werden können. Der Unterricht mit Arbeitsblättern und Aufgaben kann somit verstärkt, also weiter optimiert werden. Zusätzlich könnte eine KI sogar Lernverläufe analysieren und perfekt individualisieren. Dies wäre aber aktuell rechtlich problematisch, schließlich „beschreibt der AI-Act den Einsatz von künstlicher Intelligenz in den wichtigsten Bildungsszenarien als Hochrisikotechnologie.“ (DKJS, S. 1).
Professor Beat Honegger bezeichnet diese Variante als Datadaktik oder personalisierter Unterricht: „Der Unterricht fördert das effiziente Erreichen von zumeist automatisiert messbaren Fertigkeiten.“ (Honegger (2021), S. 45) Diese Form von Unterricht allerdings zielt weder auf einen der genannten Werte noch auf persönliche Entwicklung ab. Stattdessen droht ein Szenario, in dem nicht mehr Aufgaben aus dem Buch von Eltern gelöst oder Mitschüler:innen abgeschrieben, sondern von der KI der Lehrkraft erstellt und von der KI der Schüler:innen gelöst werden. In diesem Gipfel der Distributionslogik, Lernenden stets passende nächste Aufgaben zuzustellen, würde Lernen vollständig entfallen. Schule beschult nur, indem sie dafür sorgt, dass alle ihre Aufgaben machen.
Digidaktik oder persönlichen Unterricht beschreibt Honegger als Gegenstück:
„Der Unterricht fördert den individuellen und gemeinsamen Wissensaufbau durch vielfältige offene Lehr- und Lernprozesse. Digitale Medien dienen dabei primär zum Recherchieren, Verarbeiten, Austauschen von Information und dem Erschaffen neuer digitaler Artefakte.“
Beat D. Honnegger (2021), S. 45
Bereits im gemeinsamen Handeln geht es um demokratisches Miteinander und Konfliktfähigkeit; digitale Artefakte öffnen in Verbindung mit Projekten, die unsere Welt mitgestalten, Schule für den Umweltschutz, Solidarität und Toleranz. Bildung wird mit KI wie folgt verstärkt werteorientiert gestaltet:
Der Chatbot als co-aktives Teammitglied
In meiner oben skizzierten Vorstellung vom Lernen kann ein Chatbot ko-aktiver Teil der Teams sein. Dessen Aussagen und Produkte sind wie bei anderen Teammitgliedern zu hinterfragen und zu überprüfen.
Dabei lassen sich Chatbots auch als Werkzeug zur Förderung selbstregulierten Lernens nutzen. So kann der Chatbot einerseits individuell unterstützen, andererseits wird Autonomie gefördert:
Jennifer Knellesen, Kristin van der Meer
In diesem Kontext bekommen Aufgaben einen anderen Eigenwert, wenn sich Lernende eigenständig für einen „Kompetenzaufbau durch interaktive Übungsmöglichkeiten“ (Ebd.) entscheiden. Aufgaben können beispielsweise vom Chatbot vorgeschlagen werden, variiert oder beispielsweise im Schwierigkeitsgrad verändert, ebenso können sie Musterlösungen erstellen, Lösungen erklären, überprüfen und korrigieren. Dennoch müssen Lernende immer mitdenken, da Chatbots halluzinieren.
Dafür ist entsprechendes Wissen bei den Schüler:innen aufzubauen. Das hat Joscha Falk in den fünf Dimensionen für den Unterricht zu Lernen und KI skizziert: Lernen mit und durch, aber auch über, trotz und ohne KI. Schüler:innen müssen lernen, wo die Grenzen und Chancen des Einsatzes liegen:

Christian Kellermann
Lernen in einer sinnvollen Aufgabenkultur
Für zeitgemäße Bildung ist auch angesichts von mächtigen Chatbots keine neue Bildung notwendig, aber ein Paradigmenwechsel: Die Distribution von Aufgaben ist noch weniger sinnvoll, solange sie nicht in ein zeitgemäßes Konzept von Lernen und Entwicklung eingebunden ist.
Da die Fragen nach den entscheidenden Werten im Rahmen der Schulgesetze sowie der schulischen Leitbilder unterschiedlich ausfällt, soll hier ein zentraler Eckpfeiler für Lernen und persönlicher Entwicklung skizziert werden, den Klaus Holzkamp als expansives Lernen beschreibt, ein „systematisches, intentionales Lernen“ (Holzkamp, S. 124), was er vom defensiven Lernen abgrenzt, „zur Bedrohungsabwehr unerläßlich“ (Ebd., S. 125). Er trennt damit das (durch Aufgaben) erzwungene vom interessengeleiteten Lernen.
Ein letzter Blick auf die Aufgabenkultur verdeutlicht, dass sich nicht nur Lern-, sondern auch Prüfungsaufgaben wandeln werden. Nicht nur Anpassung an Digitalität und KI ist notwendig, auch die Kultur dahinter wird sich wandeln. Ähnlich wie bei einem Meisterstück könnten Aufgaben selbst mitbestimmt werden, aber auch der Prozess der Entstehung rückt in den Fokus.
Hendrik Haverkamp, Mitgründer des Institut für Zeitgemäße Prüfungskultur, nennt als Beispiel die Facharbeit:
Hendrik Haverkamp
Quellenangaben:
Holzkamp, Klaus (1996): Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung – Einführung in die Hauptanliegen des Buches. In: Forum kritische Psychologie 36.
Honegger, Beat Döbeli (2021): Was machen wir mir der Digitalisierung? In: Pädagogik 5/21
Muuß-Merholz, Jöran (2019): Der große Verstärker. Spaltet die Digitalisierung die Bildungswelt? In: Aus Politik und Zeitgeschichte 27-28/2019, Bundeszentrale für Politische Bildung
cc by Niels Winkelmann
Dieser Text ist in einer überarbeiteten Form in den Frankfurter Heften 12/2024 erschienen, zu dem Artikel geht es hier.
