Zeitgemäße Bildung

Werteorientierung als nächstes Bildungsparadigma?

Entwicklungsorientierung: mein aktuelles Bildungsparadigma

Der theoretische Ansatz, der meine pädagogische Suchbewegung der letzten Jahr sehr treffend beschreibt, ist „entwicklungsorientierte Bildung“. Der Grundgedanke:

  1. Wir sind lange Zeit vom Paradigma des Wissens ausgegangen.
  2. Dieses wurde vom Paradigma der Kompetenz abgelöst: Kompetenz beinhaltet einerseits Wissen, andererseits ist Wissen ohne Kompetenz bedeutungslos, wird beispielsweise erst bedeutsam mit der Kompetenz, Probleme lösen zu können (wie Philippe Wampfler hier erklärt).
  3. Entwicklung löst Kompetenz als Paradigma ab. Dabei werden Wissen und Kompetenz von Entwicklung umfasst: Entwicklung basiert auf Kompetenz ebenso wie Kompetenz auf Wissen. 

Mehr zur  Entwicklungsorientierung  beschreiben Christof Arn und Christian Stalder anhand von 13 Charakeristika, was entwicklungsorientierte Bildung ist.

Der Grundgedanke wirkt in mehrfacher Hinsicht stimmig:

Von der Entwicklungsorientierung zur Wertorientierung?

Meine #steileThese1: Wertorientierung ist das neue Bildungsparadigma - wie Kompetenz Wissen erfordert und Entwicklung Kompetenz beinhaltet, umfasst Wertorientierung alle drei bisherigen Paradigmen.

Meine Wahrnehmung ist, dass uns die Frage umtreibt, welche pädagogische Richtung Entwicklung in der Gesellschaft und in der Schule nehmen soll. Wenn ich meinen pädagogischen Ansatz auf das niedersächsische Schulgesetz und dessen Bildungsauftrag zurückführe, „die Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler […] weiterzuentwickeln“ (§2 Abs. 1.1), erfolgt beispielsweise die Gegenfrage nach der Operationalisierbarkeit von Persönlichkeitsbildung. 

Dahinter steht für mich die Bedeutung von Messbarkeit von Bildung, wohinter ich die Rationalisierung von Bildung sehe. Vermutlich ist das eine Variante der Verortung von Bildung zwischen humanistischem Selbstbildungsideal und der ökonomischen Verwertbarkeit. Aber auch die Frage, ob wir eher fachliche oder überfachliche Bildung in den Fokus rücken, steht im Raum, ebenso die Frage nach Sinn:

Sinn nicht als Teil der Entwicklung, sondern der Werte

Philippe Wampfler erklärt in seinem bereits erwähnten, sehr lesenswerten Gastbeitrag, dass abstraktes Wissen bedeutungslos ist und erst durch kontextualisierende Anwendung, beispielsweise in Problemlösung Bedeutung bekommt. Ich würde das Selbstwirksamkeit nennen.

Quelle der Grafik: https://hfab.ch/2025/04/01/aufgabenformate-in-der-entwicklungsorientierten-bildung/

Ähnlich wie Philippe sehe ich auch Entwicklung als psychologisch bedingte Aufgabe der Jugendlichen. Anders hingegen sehe ich Sinn nicht als zwingendes Ziel von Entwicklung, sondern als möglichen Teil der Werte des dahinterliegenden Paradigma der Werteorientierung.

Um das zu erklären, benötige ich als weiteres Argument die…

Stufen der Ich-Entwicklung nach Jane Loevinger

Das Konzept geht zurück auf die amerikanische Entwicklungspsychologin Jane Loevinger. Menschen durchlaufen innerhalb ihrer Entwicklung bis zu 9 Stufen, wobei die ersten beiden in der Regel innerhalb der Kindheit verlassen werden.

  • E3 Selbstorientierte Stufe („Impulsives Kind“)
  • E4 Gemeinschaftsorientierte Stufe („Konformistischer Jugendlicher“)
  • E5 Rationalistische Stufe (Selbstbewusst, aber eher konform)
  • E6 Eigenbestimmte Stufe (Selbstbestimmt, eigene Ideale)
  • E7 Individualistische Stufe (Bewusstsein für Paradoxien)
  • E8 Stufe der Autonomie (Bewusstsein für Komplexität)
  • E9 Stufe der Integration (Integration von Komplexität in Alltag)

Jeder Mensch durchläuft innerhalb seiner Entwicklung tendenziell diese Stufen, befindet sich mit den Facetten der Persönlichkeit auf mehreren, wobei je eine den messbaren Schwerpunkt des Entwicklungsstandes bildet. Keine dieser Stufen ist im eigentlichen Sinne besser für einen Menschen. Sie dienen nur der Beschreibung und sind in ihrer Pauschalität auch der Kritikpunkt an diesem Modell.

Die Stufen sind beim Verstehen meiner These jedoch sehr hilfreich:

Werte im Zusammenhang der Stufen der Ich-Entwicklung

Auf unterschiedlichen Stufen lassen sich auch spezifische Wertvorstellungen verorten, die auch im Zusammenhang mit Schule relevant sind. Diese erklärte Stefan Schultz in einem lesenswerten Essay für den Spiegel 2019.

Werte in den Stufen der Ich-Entwicklung, cc by Niels Winkelmann

Da in den letzten Jahrzehnten mehr Menschen in westlichen Gesellschaften höhere Stufen erreichen, werden auch die Werte dieser Stufen gesellschaftlich relevanter. Schultz begründet beispielsweise den Aufstieg der Grünen im Jahr 2019 mit deren Verortung in der Postkonventionalität, aber auch Forderungen nach mehr Teilzeit, einem bedingungslosen Grundeinkommen oder beispielsweise Frauenquoten: Menschen, die E7 erreichen, hinterfragen die üblichen Konventionen von Leistung und Autorität und wenden sich neuen Themen wie Diversität und Gerechtigkeit mit Blick auf Minoritäten zu. Zugleich wird Sinn wichtiger. Dass Menschen zunehmend E7 erreichen, begründet Schultz mit „Globalisierung und Digitalisierung“: „Dank Internet kommt heute fast jeder an Informationen, die die eigenen kulturellen Prägungen infragestellen.“

Allerdings skizziert Schultz auch Schwierigkeiten. So funktioniere die Gesellschaft aktuell nur, wenn nicht zu viele Menschen postkonventionell denken und beispielsweise in fremdbestimmten (Arbeits)strukturen funktionieren. Ebenso benennt er die „AfD, die eher autoritäre Werte der Stufen E3 bis E5 verkörpert“, die Steigerung von Straftaten gegen die LGBTQ-Community oder Donald Trump, „den Ich-Forscher Binder auf der Stufe E3 verortet“, aber auch den geringen Anteil von Frauen in deutschen Chefetagen. Darin könne auch Angst vor einer Neuverteilung der Privilegien liegen, weshalb Menschen sich autoritären Führungspersönlichkeiten zuwenden, obwohl sie die entsprechende Stufe bereits verlassen haben.

Gute Bildung und die Frage nach Werten

Innerhalb der pädagogischen Debatte hat Axel Krommer kürzlich darauf hingewiesen, dass wir normative Fragen im Zusammenhang mit Unterrichtsqualität zu wenig stellen:

Normative Fragen (z.B. „Was ist guter Unterricht?“) werden in der Debatte über evidenzbasierten Unterricht kaum thematisiert.Eine gute Gelegenheit, Gert Biesta nochmal zu lesen:Biesta, Gert J. J. (2010): Good Education in an Age of Measurement. London, New York: Routledge.#bluelz

Axel Krommer (@axelkrommer.com) 2025-06-08T10:42:30.556Z

Wir müssen meines Erachtens stärker Werte aushandeln, uns den ethisch-normativen Fragen stellen:

„Die Philosophie zeigt der Pädagogik das Ziel der Bildung, die Psychologie zeigt den Weg, um das Ziel tatsächlich zu erreichen und die Hindernisse auf dem Weg dorthin zu überwinden.“

Wolfgang Schnotz: Pädagogische Psychologie, S. 18.

Das Ziel von Bildung müsste gesellschaftlicher Konsens sein: Geht es beispielsweise um das Erreichen der Bildungsziele der Curricula oder doch eher um den Bildungsauftrag?

#steileThese2: Wir haben zu wenig Zielklarheit und daher zu viele Zielkonflikte in der Bildung.

Außerdem wird die Diskussion über Schule und Bildung von subjektiven Sichten darauf überlagert. Diese sind von den persönlichen Perspektiven auf unsere Welt, auf Lernen und Gesellschaft geprägt. Vermutlich spiegeln sie die jeweilige Stufen unserer Ich-Entwicklung:

#steileThese3: Die Aushandlung von Zielen für Bildung ist geprägt von den Stufen unserer jeweiligen Ich-Entwicklung.

So wie Wissen erst im Kompetenzzuwachs Bedeutung erlangt, ergeben beide zusammen in einer Entwicklung subjektiv für (einige) Lernende Sinn (im Sinne eines postkonventionellen Wertes, hier schließt sich auch der Kreis zurück zur Überlegung von Phillipe Wampfler). Ebenso kann es für andere Lernende (und Lehrende) notwendig sein, dass Wissen, Kompetenz und Entwicklung mittels behavioristischer Methoden durch autoritären Drill möglich werden. Wir benötigen Schulen, die verschiedene Lernwege für unterschiedliche Individuen ermöglichen:

#steileThese4: Wir benötigen einen gesellschaftlichen Konsens in der Vorstellung von Lernen, Schule und Bildung, an dem Menschen auf unterschiedlichen Stufen von Ich-Entwicklung andocken können.

Letztlich müssen wir Lernen am Individuum ebenso wie an der Gesellschaft ausrichten: Ich schätze es sehr, dass Niedersachsen mit Persönlichkeitsbildung (und auch Demokratiebildung) nicht-messbare Ziele im Bildungsauftrag verankert hat. Unsere westliche Gesellschaft entwickelt sich mit den Stufen der Ich-Entwicklung in die richtige Richtung. Deshalb glaube ich daran, dass wir mehr Menschen brauchen, die post-konventionell denken, Komplexität managen, Widersprüche aushalten und die Welt multiperspektivisch verstehen. Es muss nicht für alle (und immer) um Sinn, Identität und Selbstverwirklichung gehen (hier wäre auch die Perspektive von Maslow spannend). Aber wenn Selbstbestimmtheit und Offenheit mit Demokratie einhergehen, passen sie wunderbar zu den Bildungszielen Niedersachsens.

#steileThese5: Jeder gesellschaftlich Konsens über die Vorstellung von Lernen, Schule und Bildung muss im Einklang mit den (demokratischen) Grundwerten unserer Gesellschaft stehen.

cc by Niels Winkelmann