Schulentwicklung

Zeitgemäße Prüfungsformate als Schulentwicklung begreifen

Der überarbeitete Erlass „Die Arbeit in den Schuljahrgängen 5 bis 10 des Gymnasiums“ für Niedersachsen bietet mehr Raum für eine „andere Form von Lernkontrolle […], die schriftlich oder fachpraktisch zu dokumentieren und mündlich zu präsentieren ist“. Das Feld der Möglichkeiten ist groß, wie Haake und Hegermann kürzlich aufgezeigt haben:

Quelle: https://haak3.de/2025/01/artikel/aufgabengestaltung-im-kontext-zukunftsorientierter-pruefungsformate/

Die entscheidende Frage ist für mich, wie wir die Weiterentwicklung von Formaten sinnvoll für Schulentwicklung nutzen können. Aus meiner Sicht gibt es mehrere sinnvolle Ansätze. WIr sollten bei der fächerübergreifenden Lernkultur ansetzen, ebenso fachliche oder partizipative Ansätze stärken – und kombinieren:

Lernprozesse gestalten, dokumentieren und reflektieren

Mein zentraler Ansatzpunkt ist die Möglichkeit, Lernprozesse als Leistung zu betrachten. Wie im Artikel „Lernprozesse als Leistung betrachten“ aufgezeigt, skizzieren die Strategiepapiere der KMK zum Lernen in einer digitalen Welt eine Perspektive auf Lernen und Leisten, in der das Lernen als eigenständiger, 4K-basierter, projektförmiger, problem- oder produktiorientierter Prozess verstanden wird, der auf Basis einer digitalen Lernumgebung organisiert, dazu dokumentiert und anschließend reflektiert wird. Infolgedessen werden all diese Dimensionen als Leistung verstanden und mitbewertet:

cc by Niels Winkelmann;
Für die 4K-Symbole: cc by Jöran Muuß-Merholz, mit Zeichnungen von Hannah Birr, Agentur J&K auf Basis eine Folie von Markus Bölling

Praktische Lösungsansätze

Dieses Szenario bietet an, Dokumentation und Reflexion zu bewerten, wie ich das beispielsweise in der Lesejournal- und Portfolio-Arbeit mache. In Projekten verbinde ich das gerne mit einer eigenstöndigen Zielsetzung und einer agilen Lernbegleitung über Kanban-Boards, worin die Gestaltung in Form einer Planungsleistung Niederschlag findet (mehr dazu hier). Auch Lernprodukte lassen sich gut in diese Szenarien integrieren.

Weiterführende Fragen 
  1. Welches Konzept des Lernens möchten wir unsere Schüler:innen lernen lassen?
  2. Wie können wir dieses Konzept des Lernens als Leistung sichtbar machen?

Fachspezifische Kompetenzen aufgreifen

Mein zweiter Ansatz führt über die zentralen Kompetenzen, die in den curricularen Vorgaben hervorgehoben werden. Häufig besteht hier eine Diskrepanz zu den tatsächlich bewerteten Leistungen, da bestimmte zentrale Kompetenzen weniger gut für Klassenarbeiten geeignet sind.

Praktische Lösungsansätze

Im Curriculum für Deutsch könnte man beispielsweise den „Umgang mit Medien“ stärker adressieren oder das „Sprechen und Zuhören“, da beides bisher in Klassenarbeiten wenig aufgegriffen wird. Ein multimediales Ebook über Medien könnte erstellt oder ein PodCast vorbereitet und reflektiert werden.

Im Curriculum Mathematik kommen mir persönlich beispielsweise „mathematisch argumentieren“ und „kommunizieren“ zu kurz. Hier bieten sich Erklärvideos oder auch selbst erstellte Ebooks zum jeweiligen Thema mit anschließender Reflexion an.

Im Fach katholische Religion bieten sich die Urtellskompetenz für problembasiertes Lernen ebenso an wie die Dialogkompetenz für PodCasts, zudem Projekte und Produkte in der Gestaltungskompetenz. Kombiniert mit Reflexionen lassen sich diese Bereiche sehr gut umsetzen.

Weiterführende Fragen 
  1. Welche zentralen Kompetenzen lassen sich in Klassenarbeiten nicht (so gut) abbilden?
  2. In welchen Formaten können diese Kompetenzen sichtbar werden?

Fachspezifische Lernprodukte als fächerimmanente Anlässe

Produkte bestimmter Fächer wie Deutsch sind von zentraler Bedeutung, wie beispielsweise die Zusammenfassung oder die Erörterung im Fach Deutsch als grundsätzliche Methodenkompetenz für die Oberstufe. Darum habe ich zur Zusammenfassung ein Taskcard angelegt, mit dem meine Schüler:innen und Schüler von Klasse 10 bis zum Abitur immer wieder dieselben Fähigkeiten üben können – zumal diese auch in anderen Fächern von Bedeutung sind, sowohl zum Verstehen von Texten als auch zum Schreiben einer guten Zusammenfassung.

Dabei ist es denkbar, die Produktionsorientierung über die Klassenarbeit hinaus zu erweitern. Da im Sinne des lebenslangen Lernens Lernprozesse nicht mit einer Klassenarbeit enden und eine Studie von John Truscott  beispielsweise nahelegt, dass die Vollkorrektur einer Klassenarbeit kaum lernförderlich ist (Mehr dazu im PodCast), bietet es sich an, nicht nur die Klassenarbeit selbst, sondern auch deren Überarbeitung (früher: „Berichtigung“) als Leistung zu verstehen: 

Praktischer Lösungsansatz

Wenn wir Klassenarbeit und Überarbeitung als Teil des Lernprozesses begreifen, können wir zunächst nur ein grobes Feedback geben und danach die Texte mit bestimmten Schwerpunkten überarbeiten lassen. Diese Überarbeitungsprozesse haben dabei erwiesenermaßen einen hohen Wert

Methodisch eignet sich dafür Björn Nöltes Ansatz „Master or die“. Hier können die Lernenden ihre Fähigkeiten so lange unter Beweis stellen, bis sie diese voll ausgebildet haben. 

Von spezifischen Lernprodukten zum Methodencurriculum

Die Frage ist jedoch, welche Produkte von zentraler Bedeutung für andere Fächer sind. Am ehesten sehe ich hier Chancen für ein Methodencurriculum, bei dem Medienformate mit einer Standarderwartung verbunden sind. Diese könnten über Fächer und Jahrgänge verteilt entwickelt werden, sodass Lernende sie funktional im Lernprozess einsetzen können, indem sie Ziele formulieren: „Ich erstelle einen PodCast/ ein Ebook, um …“

Weiterführende Fragen 
  1. Welche Klausuren und Medienformate sind von zentraler Bedeutung für Lern- und Leistungsprozesse?
  2. In welchen Fächern können welche Formate auf eine Standarderwartung hin geübt werden?
  3. Welche Formate erleben Lernende als besonders lernförderlich?
  4. Wie können sich alle Fächer an einem Methodencurriculum sinnvoll beteiligen?

Fachspezifische (digitale) Tools als Chance

Im Sinne des DPACK-Modell bieten zudem fachspezifische digitale Entwicklungen (Abschnitt 5 im Blog) großes Potential.

Quelle: Konvergenz im DPACK-Modell

Wenn Karten-Apps und Google Earth (Erdkunde), Grafikprogramme (Kunst) oder die Musikproduktion auf dem iPad immer Alltag sind, können sie auch den Unterricht bereichern, indem sie produktiv genutzt werden. Auch diese können Teil des Methodencurriculum werden.

Weiterführende Fragen 

  1. Welche (digitalen) Tools verändern das eigene Schulfach?
  2. Wie können fachpraktische Leistungen mit digitalen Tools sichtbar werden?

Partizipative Entwicklung von Lerndemonstrationsformaten?

Wenn wir als Lehrkräfte Prüfungsformate neu interpretieren und auf die Frage zurückführen, wie Lernende ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen können, sollten wir Prüfungsformate gemeinsam mit Lernenden entwickeln. Hier kann die gemeinsame Entwicklung von Kriterien ein zentrales Element sein. Das lässt sich gut mit dem Tool MindWendel realisieren. Dort können Kriterien formuliert und anschließend mit Hilfe der Label geclustert werden.

Daraus folgt jedoch die Frage, wie viel Offenheit und Geschlossenheit neue Formate beinhalten können und sollen: Wenn Fachkonferenzen die Regeln für neue Formate zu eng definieren, ist die gemeinsame Entwicklung mit Lerngruppen nicht mehr möglich. Zugleich steht dahinter die Frage nach Vergleichbarkeit. Angesichts zunehmend individueller und binnendifferenzierter Lernprozesse wird allerdings auch Leistung individueller und damit weniger objektiv vergleichbar.

Weiterführende Fragen 
  1. Wie können wir Standardisierung zugleich verbindlich (im Sinne einer Mindestanforderung) als auch offen (sowohl inklusiv mit Blick auf sinnvolle Aufweichungen als auch darüber hinaus (heraus)fordernd) denken?
  2. Wie können die Lernenden in die Planung von Leistungsnachweisen einbezogen und an diese herangeführt werden, auch im Sinne einer Co-Agency (mehr dazu im OECD Lernkompass 2030)?
Quelle: OECD Lernkompass 2030, S. 38

Chancen für die Schulentwicklung

Neue Prüfungsformate sind eine große Chance in der Schulentwicklung. Wir sollten nicht den Fehler der Vergangenheit wiederholen und fachliche gegen überfachliche Kompetenzen ausspielen. Wenn eine schulweit etablierte Lernkultur mit einem klug in den Fachunterricht integrierten Methodencurriculum kombiniert wird und dabei neben der Sicht der Lehrenden Raum bleibt für lerngruppenspezifische wie individuelle (und womöglich inklusive) Kriterien für Lernnachweise, haben Lernende sowohl eine klare Orientierung als auch genügend Freiräume für ihre Lernprozesse

cc by Niels Winkelmann

Aus meiner Sicht sollten wir Lernnachweise als Unterstützung von nachhaltigen Prozessen sehen: Vor allem die Reflexion über sinnvolles und sinnstiftendes Lernen sollte im Zentrum stehen. Die Frage sollte sein: „Inwiefern hilft der Lernprozess mir und der Lerngruppe?“

cc by Niels Winkelmann