Zeitgemäße Bildung

Jenseits des Delfinariums

Von Raubtieren, Faultieren und Käfig-Flüchtern

Manchmal warten Kinder im Unterricht wie Delfine im Delfinarium auf ihre nächste Belohnung. Diesen Delfinarium-Effekt können wir – wie im Blog beschrieben – dank der ermöglichenden Funktion der Digitalität aufbrechen.

Darüber hinaus zeigte sich allerdings in einem Twitter-Dialog mit Susanne Posselt, dass der Delfinarium-Effekt nur einen Teil dessen beschreibt, was wir Kindern im System Schule zumuten. Dort können Lernende auch wie gefährliche Raubtiere reagieren, sich ebenso wie Faultiere und Käfig-Flüchter verhalten. Einen Zugang zu allen Tierarten können wir über die Bedürfnispyramide von Maslow finden.

Gefahren von (frustrierten) Lernenden

Susanne Posselt griff in ihrem Tweet den Hacker-Angriff eines 14-jährigen auf eine Lernplattform auf. Sie sieht darin „eine negative Einstellung zur Schule“, zugleich aber auch eine Begabung, die gegen die Schule eingesetzt wird. Der Medienbericht lässt zwar offen, ob es vorsätzlich oder aus Langeweile geschah. Dennoch wird deutlich, dass hier kein Delfinsprung im Sinne des Systems Schule vorlag. Eher im Gegenteil. Trotzdem hat der Schüler Beeindruckendes geleistet. Vor allem war der Schüler intrinsisch motiviert. Damit hatte er vielen Delfinen etwas voraus, da diese meist extrinsisch durch Noten und Lehrer- oder Elternerwartungen angetrieben werden.

Diese Beobachtung wirft mich zurück auf meine ursprüngliche Frage: Wie können wir Lernenden gemäß ihren Begabungen intrinsisch motivierte Sprünge in der Schule ermöglichen? Wie können wir Räume innerhalb des Systems dafür schaffen, anstatt Schüler für das System zurechtzubiegen oder Sprünge nur außerhalb stattfinden zu lassen? Damit könnten wir auch kreative Energie kanalisieren und Destruktion durch Schülerinnen und Schüler verhindern. Nicht nur Computer-Hacking, sondern auch Angriffe auf Mobiliar und Gebäude, auf Mitschüler und Lehrkräfte, Störung von Präsenzunterricht und Zoom-Bombing. Wir könnten die Raubtiere im Bild nicht nur domestizieren, ihre Triebe nicht maximal unterdrücken, sondern sie im positiven Sinne kultivieren und für die Gemeinschaft urbar machen. Und dafür gibt es so viele tolle Beispiele aus SV-Arbeit, Schülerfirmen, AGen, Schülerzeitungen und vielem mehr. Wobei all das zwar in der Schule, aber eher neben dem Unterricht läuft. Für manch einen ist dann die Zeit in der Theater-AG zur Kür geworden, der Unterricht längst zur lästigen Pflicht verkommen.

Gefahren für (frustrierte) Lernende

Neben der Gefahr für andere muss auch die Gefahr für Lernende selbst im Blick sein: Der Oldenburger Sonder- und Rehabilitationspädagoge Prof. Dr. Heinrich Ricking berichtet von einer engen Verwandtschaft zwischen Stör- und Verweigerungsverhalten:

„Im Englischen existiert dafür der Begriff ‚hidden dropout‘, der Schüler bezeichnet, die zwar noch regelmäßig die Schule besuchen, jedoch ohne Interesse und Engagement die Unterrichtszeit absitzen und innerlich abgeschaltet haben (analog ‚innere Kündigung‘).“ 
Die Gefahr der Raubtiere für Andere ordnen wir im Unterricht oft vorschnell als als reines Störverhalten ein. Sie ist aber ähnlich zu betrachten wie die Gefahr für das das Selbst der Lernenden, für ihre innere Welt, für ihre Persönlichkeit. 

Bildlich gesprochen werden Tiere in Gefangenschaft eine Gefahr für sich selbst: Im Delfinarium sterben viele Delfine, weil die Haltung nicht artgerecht sein kann. Das passiert zwar Schülerinnen und Schülern nicht im vegetativen Sinne, aber als Lernende gehen sie zugrunde. Statt Lernfreude empfinden sie nur Lernfrust, was zu oft zu innerer Kündigung führt. Das Schulsystem kennt also nicht nur Raubtiere und angepasste Delfine, die springen, wenn sie aufgefordert werden. Unser Bild zeigt auch Faultiere, die antriebslos vor sich hin dümpeln. 

Andere wiederum fallen aus dem System und werden zu Käfig-Flüchtern. Diese Schulschwänzer fallen schnell auf, weil sie abwesend sind. Das bemerken wir im Klassenraum vergleichsweise schnell. Im corona-bedingten Distanzunterricht hingegen weniger. Deshalb wird in vielen Schulen auch im Distanzunterricht auf die bewährten Kontrollinstrumente wie die Anwesenheitsliste in der Videokonferenz oder die regelmäßige Pflichtaufgabe gesetzt. Damit kann man den tatsächlichen „Dropout“ durch die Kontrolle feststellen – aber nicht ändern.

Der hidden dropout hingegen bleibt traditionellen Kontrollen verborgen, weil bei Pflichtaufgaben die innere (Lern)Welt unbeachtet bleibt. Inwieweit Lernende Aufgaben als Herausforderung angenommen haben, kann kaum kontrolliert werden. Aufgaben können zwar oberflächlich abgehakt werden. Sie müssen aber inhaltlich durch Lernende selbst überprüft werden

Vor allem dem Faultier ist so nicht beizukommen. Besonders im Falle der inneren Kündigung wird eine Aufgabe zwar abgearbeitet, aber kein Lernschritt gemacht. Echte Lernschritte erfordern eine echte Auseinandersetzung. Diese können wir von außen evozieren, aber nicht initiieren. Echte Lernprozesse erfordern eine bewusste Aktivität von Lernenden. 

Diese erreiche ich nicht durch Pflichtaufgaben, im Gegenteil sind sie kontraproduktiv. Dadurch stabilisiere ich alle genannten Tierarten in ihrem Verhalten. Der Delfin übt sein Reiz-Reaktionsschema. Die übrigen Tierarten flüchten weiter in Vermeidungsreaktionen. Stattdessen muss ich den Grund für das Verhalten bei den Bedürfnissen meiner Schülerinnen und Schüler suchen.

Bedürfnisse von Lernenden

Auch wenn besonders im Fall von Schulverweigerung nicht nach dem einen Grund gefragt werden kann und wir unseren unterschiedlichen Typen nicht mit der einen Lösung gerecht werden können, liegt doch ein Schlüssel zum Verständnis in der Maslowschen Bedürfnispyramide: 

Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Maslowsche_Bedürfnispyramide.png

Wenn ich auf Schule als System blicke, muss ich akzeptieren, dass die physiologischen Bedürfnisse weitgehend Aufgabe der Familie sein sollten (auch wenn das längst nicht immer hinreichend wahrgenommen wird). Dem Sicherheitsbedürfnis wird zudem seit der Abschaffung der Prügelstrafe jenseits von Gewalt von Schülern untereinander weitgehend Rechnung getragen. Allerdings kann Druck durch einzelne Lehrkräfte („Drannehmen“, an der Tafel vorrechnen etc) ebenso wie systemischer Druck („Sitzenbleiben“, Drohung des Verlassens der Schule) ausgeübt werden. Zudem kommen in der Kultur der Digitalität Optionen wie Cybermobbing hinzu. Dadurch kann das Bild des Raubtieres situativ nachvollziehbar werden: Wer unter Druck gerät, reagiert auch schnell unkontrolliert und unkontrollierbar, destruktiv gegen andere oder gegen sich selbst.

Sozialität in der Kultur der Digitalität

Wenn Kinder sich in Familie und Klassengemeinschaft wohlfühlen, sind soziale Bedürfnisse zwar zu einem großen Teil abgedeckt. Allerdings zählte Maslow zu den sozialen Bedürfnissen unter anderem auch „Zugehörigkeitsgefühl, Kommunikation, sozialer Austausch, Gemeinschaft, gegenseitige Unterstützung“. Hierin zeigen sich Chancen für Schule in einer Kultur der Digitalität, in der nach Felix Stalder Gemeinschaftlichkeit eine zentrale Rolle einnimmt. Vor allem wenn Schule sich an den 4K orientiert, viel auf Kollaboration und Kommunikation setzt, kann sie in einer neuen Dimension den sozialen Bedürfnissen von Kindern gerecht werden: Indem ich das soziale Gefüge jenseits von Sitznachbar und BFF erweitere und im digitalen Raum immer wieder neu Zugehörigkeitsgefühl durch thematische Gemeinsamkeiten aufkommen lasse (wie in gut organisierten Gruppenarbeiten natürlich auch, aber von Zeit und Raum gelöst). Zudem ist besonders die gegenseitige Unterstützung in echter Kollaboration (im Gegensatz zu notwendiger Kooperation) eine essentielle Erfahrung von wechselseitiger Unterstützung, da viel mehr auf der Meta-Ebene Organisation diskutiert wird.

Lernende zur Freiheit führen?

Über die Grundbedürfnisse hinaus gehen nach Maslow die Individualbedürfnisse: „Vertrauen, Wertschätzung, Selbstbestätigung, Erfolg, Freiheit und Unabhängigkeit“. Diese Werte divergieren in der traditionellen Schule: Lehrerinnen und Lehrer würden durchgängig unterschreiben, dass ihre Lernenden sowohl  Selbstvertrauen aufbauen als auch Wertschätzung und Selbstbestätigung erfahren und Erfolge erleben sollen. Aber die Frage nach Freiheit und Selbstverwirklichung ist im traditionellen, kontrollbasierten Unterricht ambivalent. Einerseits wollen wir Lehrerinnen und Lehrer unsere Schülerinnen und Schüler nach der Schule in Freiheit und Selbstverwirklichung entlassen, andererseits können wir sie gefühlt leichter führen, wenn wir keine „Widerworte“ bekommen und alle an unseren Lippen hängen. Axel Krommer verweist deshalb auf Immanuel Kant:

„Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?”
Ähnlich lässt sich Ricking hinsichtlich der Schulverweigerer deuten, wenn er von der „erlernten Hilflosigkeit“ spricht. Für mich ist das nichts anderes als eine „unverschuldete Unmündigkeit“, fast wie Kant die Menschen sah und aus der er sie – wie wir die Schülerinnen und Schüler – herausführen möchte. Allerdings sehe ich darin auch eine fremdverschuldete Unmündigkeit: Dorthin manövrieren wir Lernende im System Schule, je mehr wir Kontrolle ausüben. Krommer fordert deshalb in den mit Wanda Klee und Philippe Wampfler entwickelten didaktischen Schiebereglern:
„So viel Vertrauen und Freiheit wie möglich, so viel Struktur und Kontrolle wie nötig.“ 
Dieses Spannungsfeld von Kontrolle und Vertrauen ist aktuell im Schulsystem deutlich spürbar, wie Jöran Muuß-Merholz mit seiner Verstärkerthese zeigt: Durch die Möglichkeiten des Digitalen kann ich in Schule stärker kontrollieren oder auch mehr Freiheit ermöglichen.

Aber nur durch Vertrauen kann ich Freiheit und Selbstverwirklichung ermöglichen. Erst dann „wird nach Maslow eine neue Unruhe und Unzufriedenheit im Menschen erwachen: Er will seine Talente, Potenziale und Kreativität entfalten, sich in seiner Persönlichkeit und seinen Fähigkeiten weiterentwickeln und sein Leben gestalten und ihm einen Sinn geben.“ Erst dann vollführen meine Lernenden Delfin-Sprünge aus Lernlust. Erst dann können sich meine Lernenden in Autonomie und Freiheit voll und ganz entfalten. 

Auf dem Weg dorthin helfen echte Herausforderungen, Ziele, die sie mit den Unterrichtenden s.m.a.r.t. formulieren können.

Auf dem Weg dorthin helfen die ermöglichenden Potentiale der Digitalität – und keine neuen Möglichkeiten der Kontrolle!

cc by Niels Winkelmann