Zeitgemäße Bildung

Mein Abschied vom Arbeitsblatt

„Alle, die inzwischen im 1:1-Setting arbeiten: Erstellt ihr noch Arbeitsblätter?“ Die Frage auf Bluesky hat mich getriggert, meine Ideen dazu zusammenzutragen: Warum arbeite ich kaum noch mit Arbeitsblättern, warum erstelle ich keine (klassischen) Arbeitsblätter mehr? Und worin könnte für andere ein Nutzen liegen?

Arbeitshefte und das selbstregulierte, eigenverantwortliche Arbeiten?

Besonders als Deutsch-, aber auch als Mathematiklehrer und Vater war und bin ich mit unzähligen Arbeitsheften konfrontiert, die meist zu Schuljahresbeginn gekauft und dann abgearbeitet werden (müssen). Der sarkastische Unterton soll nicht sagen, dass diese Hefte sinnlos sind. DIe Art der Nutzung ist für mich entscheidend. Wenn Lernende diese Aufgaben bewusst nutzen (dürfen), um ihre Fähigkeiten zu üben und zu trainieren, sind sie funktional und ein konstruktiver Lernschritt.

Wenn aber Aufgaben nur abgearbeitet werden, eine Kontrolle nur per Daumenkino läuft, den Schüler:innen die Musterlösungen sogar vorenthalten werden, entspricht das weder meiner Vorstellung von selbstreguliertem Lernen (dafür müssten Lernende metakognitiv die Aufgabe und ihre Funktionen erfassen und Ziele auch auf eigenen Wegen erreichen dürfen) noch von Eigenverantwortung (dafür müssten sie lernen, ihre Lösungen selbst zu kontrollieren, mehr dazu hier).

Abarbeiten führt schnell in den Delfinarium-Effekt (Kinder machen das dann nur für Belohnungen), Selbstregulierung und Eigenverantwortung hingegen können ein gesundes Lernverhalten stärken, was in lebenslangen Lernkonzepten mündet.

Arbeitsblätter als leicht verdauliche Kost?

Arbeitshefte und ihre Logik sind auf Arbeitsblätter gut zu übertragen: Ein Arbeitsblatt kann ein sinnvoller nächster Schritt auf einem Lernweg sein. Das Heft wird oft als vorgegebener Lernweg betrachtet. Diesen Lernweg kann ich lehrseits und lernseits betrachten (mehr dazu hier).

Lehrseits wird das Thema in verdauliche Häppchen unterteilt, dazu gibt es Übungen, die beim Verdauen helfen. Nur wer die Häppchen ausreichend kaut, indem genug geübt wird, verschluckt sich nicht und ist bereit für den nächsten Happen. So wird Unterricht durchgetaktet und die Nahrungsaufnahme, das Lernen organisiert.

Was im Bild nicht stimmt: Ebenso wie wir unterschiedlich schnell essen und verdauen, lernen wir unterschiedlich schnell. Lernen muss also stets ein individueller Prozess sein. Ähnlich wie Babys sich nicht lange füttern lassen, führt die Zwangsfütterung mit Aufgaben und Arbeitsblättern (schnell) dazu, dass Kinder erbrechen – oder sich ihrem Schicksal ergeben.

Wenn ich möchte, dass ein Kind ein Gespür für Sättigung lernt, muss ich es in seinem Esstempo und seiner Sättigung ernst nehmen. Wenn ich möchte, dass ein Kind ein Gespür für Lern-Sättigung lernt, muss ich es in seinem Lerntempo und seiner Lern-Sättigung ernst nehmen. Ich muss also individuelle Lernwege ermöglichen, nicht vorgeben oder erzwingen.

Lernen ist das Persönlichste auf der Welt, so eigen wie ein Gesicht oder wie ein Fingerabdruck, noch individueller als das Liebesleben.

Ernst von Glasersfeld

Arbeitshefte und Arbeitsblätter in der Digitalität?

Wenn ich individuelles, selbstreguliertes und eigenverantwortliches Lernen in der Digitalität denke, sehe ich mehrere Entwicklungen.

Es gibt eine Didaktik des Überfluss: Wir haben neben den Büchern und Arbeitsheften in jedem 1:1-Setting vor allem eine Vielzahl von Lehrenden (durch Erklärvideos) und Übungen (auf Webseiten). Das Wissen der Welt ist umfangreich dokumentiert und didaktisiert. Warum sollte ich das Rad (ständig) neu erfinden und bessere Arbeitsblätter kreieren?

Das DIN A4-Format verliert an Bedeutung in der Digitalität. Ich kann quadratische Formate ebenso nutzen wie 16:9. Oder ich kann mit (nahezu) unendlichen digitalen Boards arbeiten. Und mit dem Überwinden des Papierformates eröffnen sich neue Möglichkeiten, Dokumente digital zu verlinken, an Dokumenten kollaborativ zusammenzuarbeiten, sie zu kommentieren etc (Mehr dazu hier). Warum konzipiere ich also noch Dokumente, die aussehen wie Blätter?

Zudem ermöglicht KI neue Optionen für Lernwege: Bei eindeutigen Lösungen, die es zu (er)lernen gibt, Rechnungen, Rechtschreibung, Grammatik etc. können adaptive Systeme eine gute Alternative zum Arbeitsheft sein. Auch bei uneindeutigen Lösungen wie Stellungnahmen etc. kann KI alternativ oder ergänzend zum Peerfeedback und dem Feedback der Lehrkraft zusätzliches Feedback geben. Warum sollte ich KI – auch im Rahmen einer Didaktik des Überfluss und mit Blick auf individuelle Lernwege – nur als Bonus-Level via QR-Code einbinden?

Somit spricht nichts grundsätzlich gegen Arbeitsblätter. Aber ich lasse zunehmend nicht mehr alle Lernenden zur gleichen Zeit die gleich Aufgabe bearbeiten – weil es mit meinen Grundannahmen vom Lernen nicht vereinbar ist. Entsprechend erstelle ich selbst keine Arbeitsblätter mehr. Darüber hinaus lasse ich Lernende aus den vorhandenen Heften und Büchern ebenso wählen wie aus den digitalen Optionen.

Wenn ich Material erstelle, das ich benötige, sind es zunehmend Anleitungen zum Meta-Lernen, zur Reflexion, für Persönlichkeitsbildung und entwicklungsorientierte Bildung.

Gutenberg-Galaxy ist Teil von (digitaler) Schule

„Die Mündlichkeit, die Handschrift und das gedruckte Buch werden nicht durch Digitales ersetzt, sondern behalten bzw. verändern ihre angestammten Funktionen und erobern neue kulturelle Nischen.“

Axel Krommer

Alle medialen Formen haben einen Platz in der Schule, auch und besonders angesichts einer Kultur der Digitalität. Insofern lehne ich Arbeitsblätter nicht ab und nutze sie punktuell bewusst in Papierform. Beispielsweise verteile ich Selbsteinschätzungsbögen lieber auf Papier, da sie dann physikalisch im Raum liegen – und nicht digital kopierbar werden (Mehr zu den Bögen hier).

Zudem sehe ich zwei Wege, wie die Arbeit mit Arbeitsblättern in die Kultur der Digitalität führen können:

Anbieter wie Tutory* ermöglichen es, mit einfachen Mitteln digitale Arbeitsblätter zu erstellen. Wenn dieser Weg nicht in eine Mappenführung 2.0 mit der Logik des Abarbeitens, sondern in selbstregulierte und eigenverantwortliche Arbeitsformen führt, kann das ein guter Startpunkt sein – zumal hier OER-Materialien leicht erstellt und geteilt werden. So wird auch Kollaboration von Lehrkräften als Teil der Kultur der Digitalität möglich.

Die Zusammenstellung von Arbeitsblättern zu Lerntheken in LearningView kann selbstgesteuertes und eigenverantwortliches Lernen gezielt fördern, da dort Lernende eigene Lernwege gehen (können). Mehr dazu gibt es in Studypoint** zu sehen, allerdings kostenpflichtig. Wichtig hier die Anmerkung, dass Learning-View nicht als „pdf-Schleuder“ verwendet werden sollte. Zugleich ist Learning View ein weiterer Weg in die Kollaboration – da Materialien und Kurse miteinander geteilt werden können.

*Disclaimer: Danach wurde im Posting bei Bluesky gezielt gefragt.

**Disclaimer: Ich durfte den Kurs kostenlos bearbeiten, stehe in keiner geschäftlichen Verbindung zu studypoint.

cc by Niels Winkelmann