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Das Stützrad-Paradoxon

beschreibt Strukturen, die aus guter Absicht heraus Lernprozesse nachhaltig in die falsche Richtung beeinflussen. Vorgegebene Lernwege ohne Gestaltungsfreiräume erweisen sich beispielsweise als Motivationskiller, denn:

„Der entscheidende Motivationsfaktor ist das Ausmaß der selbst erlebten Autonomie“

Michael Faulstich

Das Stützrad-Paradoxon ist das zentrale Bild für diese Strukturen. Es hilft uns, problematische Strukturen zu erkennen und nach Möglichkeit zu überwinden. Um das Bild zu verdeutlichen, gebe ich einen kleinen Einblick in meine Kindheit.

Meine kleine Schwester mit Stützrädern auf ihrem orangen Pucky

Ich hätte als großer Bruder nie gedacht, dass man ohne Stützräder Fahrrad fahren lernen kann. Meine kleine Schwester – fünf Jahre jünger als ich – hatte Stützräder an ihrem ersten Fahrrad. Die waren natürlich dazu da, dass sie alles lernen konnte: Treten, Lenken, die Verkehrsregeln; einfach alles, was sie aus meiner Sicht lernen sollte, bevor sie mit den Gefahren eines Sturzes konfrontiert werden durfte.

Jahre später haben mir junge Eltern erzählt, man nutze keine Stützräder mehr. Kinder würden neuerdings zuerst Laufrad fahren und könnten danach problemlos auf ein Fahrrad wechseln. Ich konnte es nicht glauben – das war doch viel zu gefährlich, das kann man Kindern doch nicht antun!

„Du lernst nicht zu laufen, indem du Regeln folgst. Du lernst es, indem du hinfällst.“

Richard Branson

Die pädagogische Perspektive: Warum Stützräder problematisch sind

Heute weiß ich, dass Laufräder wunderbar funktionieren, dass Stützräder nur eine trügerische Sicherheit bieten und wichtige Lernprozesse verhindern: „Sie verhindern sogar, dass Kinder das für das Radfahren richtige Lenken, Anfahren und Anhalten lernen.“ Als ich meine eigenen Kinder mit ihren Laufrädern flitzen sah, habe ich verstanden, dass genau dieses Ausprobieren von zentraler Bedeutung ist – und das Hinfallen auch!

„Fail early, fail often, but always fail forward!“

(John C. Maxwell)

Scheiter früh, scheiter oft, aber scheiter immer vorwärts!

Stützräder lenken den Lernprozess ungewollt in eine problematische Richtung: „Vor allem gewöhnen sich Kinder auf einem Kinderfahrrad mit Stützrädern eine falsche Kurvenfahrhaltung an: Sie verlagern ihr Gewicht nach außen statt nach innen. Sie machen also das genaue Gegenteil, so müssen sie – wenn die Stützräder abgeschraubt sind – das Kurvenfahren völlig neu lernen.“ Stützräder befördern also einen Lernprozess, der nicht nur ineffektiv oder suboptimal verläuft, sondern Kinder eher vom angestrebten Lernziel entfernt statt sich ihm zu nähern. Da Kinder sich die falsche Haltung angewöhnen, fahren sie oft nicht, sondern bleiben stehen. Mit der richtigen Haltung (und ohne Stützrad) lernen sie nachhaltig, wie diese Radfahrprozesse ablaufen: „Mit den Laufrädern lernen Kinder spielend ihr Gleichgewicht zu halten – das erleichtert ihnen später das Radfahren.“

Das Stützrad im Spannungsfeld des Lernens

Ich nenne dieses Phänomen das „Stützrad-Paradoxon“. Es steht sinnbildlich für problematische Strukturen, die im Rahmen von institutionalisierter Bildung entstehen. Dies fällt beispielsweise auf, wenn wir Lernprozesse ursprünglich denken und uns fragen, wie Menschen grundsätzlich lernen. Auf der einen Seite steht das systematische, institutionalisierte Lernen, wie wir es aus der Schule kennen, auf der anderen der Prototyp ursprünglichen Lernens, die Autodidaktik. 

Autodidaktik als ursprüngliches Lernen

Ursprüngliches Lernen beobachten wir vor allem bei Kindern. Die allermeisten Kinder lernen selbstständig laufen und sprechen. Einige wachsen mehrsprachig auf, ohne dafür Sprachkurse zu besuchen. 

Ebenso machte Paul McCartney als Musiker eine Weltkarriere, ohne Noten lesen zu können. Er hatte es nie gelernt. Bill Trayor begann mit 83 Jahren autodidaktisch sein Talent für Zeichnungen zu entwickeln. Das sind nur zwei Beispiele von vielen, die herausragende Fähigkeiten erlernt haben, ohne dass jemand anders sie gelehrt hätte.

Zur Ambivalenz der Didaktisierung

Auf der anderen Seite stehen systematisch-didaktisierte Unterrichtskonzepte. Natürlich sind diese sinnvoll: Es ergibt keinen Sinn, Unterricht unsystematisch zu planen. Auch unsere Lernerfahrung sagt uns, dass systematisches Lernen effektiv ist. So haben wir vermutlich alle Lehrerinnen und Lehrer im Kopf, die uns Klarheit verschafft haben, indem sie uns Struktur gegeben haben. 

Andererseits führt das dazu, dass Schulen weitgehend lehrseitig gedacht sind, wie es Jöran Muuß-Merholz im Routenplaner#digitaleBildung auf der Basis einer Idee von Michael Schratz pointiert herausgearbeitet hat. Auch wenn wir so gern von Lehr-Lern-Prozessen reden, wird in der Schule der Stoff auf Pläne verteilt. Lernen wird auf dem Reißbrett geplant, beginnend in den Kultusministerien und den Landesschulbehörden, in den schulinternen Curricula und den Planungen der unterrichtenden Kolleginnen und Kollegen. Wer nicht zur rechten Zeit das rechte lernt, baut Lernrückstände auf, liegt nicht im Soll. 

Das führt zur Fremdbestimmung des Lernens. Sie geht einher mit fehlender Eigenverantwortung, da primär die Lehrenden Verantwortung für den Lernfortschritt tragen. Entsprechend fehlt die intrinsische Motivation, da Ziele nicht selbstgewählt sind, sondern – aus Lernersicht – angeordnet werden. Somit erreiche ich mit einer – gut gemeinten – systematischen Planung eine Entmündigung und Demotivation der Lernenden. Aus dem Wunsch, Lernen zu fördern, konstruieren wir Stützräder, die nicht zu Lern-Eigenständigkeit, sondern zu Lern-Abhängigkeit führen.

Co-Agency als Maßstab: Zwischen Lern-Eigenständigkeit und Lern-Abhängigkeit

Die OECD beschreibt in ihrem Lernkompass 2030 sehr treffend die Skala, auf der wir uns befinden: Oft wird beim eigenständigen Lernen konotiert, Lernende müssten das dann auch ganz alleine schaffen. Aber es geht nicht darum, Lernende sich selbst und ihrem Schicksal zu überlassen, sondern Ihnen die Initiative zu überlassen und aus dieser heraus gemeinsame Entscheidungen zu treffen -wie die 10 Stufen des Sonnenmodells der Co-Agency verdeutlichen: „Das Licht ist dort am hellsten, wo wir zusammen scheinen“!

Quelle:
https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/user_upload/OECD_Lernkompass_2030.pdf, S. 40

Projekt 2025: Prototypen für eigenständiges Lernen finden und sichtbar machen

Daher möchte ich in diesem Jahr die Laufräder, die Prototypen für eigenständiges Lernen finden. Bei mir selbst können Lernende vor allem in der Scrum-Variation und in Lesejournal- und Portfolioarbeit (Link) Verantwortung für ihr Lernen übernehmen, Lernprozesse selbst organisieren und reflektieren. Mein Ziele dahinter habe ich vor drei Jahren formuliert:

Quelle: Lernen 2021.

Ein PodCast in Planung

Mein Ziel für 2025 ist, die Laufräder, die Prototypen, die positiven Beispiele für eigenständiges Lernen zu finden und in einem PodCast sichtbar, eigentlich eher hörbar zu machen. Wenn Du von einer Unterrichtsstunde oder einer Unterrichtssequenz berichten magst, in der Lernende eigenständig agieren konnten, melde Dich gerne bei mir. Noch bin ich in der Planung des PodCasts, aktuell suche ich gute Beispiele und Menschen, die davon berichten mögen.

cc by Niels Winkelmann