Zeitgemäße Bildung

Mehr Chaos wagen

„Chaotisches Klassenzimmer“ von DALL-E

Wir Lehrer:innen wurden ausgebildet, um gut strukturierte Stunden zu halten, denen eine klare Ordnung innewohnt. Ordnung gibt Orientierung und Halt, ist aber nicht Lösung, sondern Teil des Problems – wie ein kleiner Vergleich illustriert:

Minibasketball – ein kleiner Einblick in meine Trainertätigkeit

Im Austausch über meine Minibasketballgruppe (U8/U10) schlug ein Trainerkollege vor, das Abschlussspiel mit zwei Bällen zu machen. Mir war das zunächst suspekt – zu einem echten Basketballspiel gehören ein Ball und zwei Körbe. Meine Kleinen sollen ja das richtige Spiel lernen!

Und es war chaotisch! Der Plan, dass wir uns aufteilen und je einen Korb im Blick haben, ging nicht auf, weil natürlich auch mal zwei Angriffe auf einen Korb gleichzeitig liefen. Immer wieder kam es zu Situationen, die wir als Trainer (und Schiedsrichter) nicht voll im Griff hatten.

„Basketball-Chaos“ von DALL-E

Aber wir sind vom Ansatz überzeugt: Viel mehr Kinder waren aktiv, kaum jemand konnte sich aus Spielsituationen herausziehen und „nur“ auf die Verteidigung konzentrieren. (Fast) alle waren hochkonzentriert und gefordert. Wir werden das definitiv wiederholen!

Neue Wege der Aktivierung

Die Idee stammt aus der Albathek. Dort stellt das Team von Alba Berlin kreative Ideen für Bewegungsangebote bereit. Ein anderer Vorschlag ist eine Funiño-Variante – drei Spielern je Mannschaft auf vier Körbe: „Das Grundprinzip: Weniger Spieler:innen, ein kleineres Feld, aber gleich zwei gegnerische Ziele. Auch im Basketball sorgt das für mehr Aktionen, Erfolgserlebnisse und jede Menge Spielwitz.“ Es geht nicht um das große Basketballspiel, sondern um Aktivierung, Selbstwirksamkeit und den individuellen Spieltrieb.

Der Deutsche Basketball Bund (DBB) erläutert in seinem Leitfaden Minibasketball: „Ein Vorteil, den diese kleinen Spiele haben, ist, dass unterschiedliche Fertigkeiten und Fähigkeiten gefordert sind. So sind in einigen Spielen auch die vermeintlich schwächeren Kinder die stärkeren.“

Chaos bringt Probleme mit sich

Dass solche Trainingsspiele chaotische Situationen für uns Trainer bedeuten, benennt der DBB ganz offen: „Wenn man in kleinen Gruppen spielen lässt, muss man mehrere Spielfelder gleichzeitig betreuen. Dies funktioniert aber nur, wenn die Kinder die Spiele schon kennen, ansonsten entsteht schnell Chaos, da man als Trainer nur ein Feld beaufsichtigen kann.“

Entscheidend ist also die Fähigkeit der Spieler:innen, eigenständig spielen zu können, Fouls anzusagen und strittige Situation miteinander fair zu klären. Diese Form der Selbstorganisation bedarf der Übung. Wir lösen das bisher mit mehreren Trainern, zumal viele Kinder noch sehr jung sind – die meisten 5-7 Jahre alt.

Von der Basketballhalle in die Schule

Natürlich ist Training sehr geordnet, wenn alle machen, was ich sage, beispielsweise bei synchronen Dribblingübungen in Reih und Glied. Ebenso ist tradierter Unterricht einfach zu kontrollieren, wenn lateinische oder französische Verben im Chor erklingen.

Auch Training im Gleichschritt ist gut beherrschbar: Ich lasse Teams an ihrem Korb parallel 60 Sekunden lang Korbleger machen – und die Treffer laut mitzählen. Analog kann ich Lernenden Arbeitsaufträge erteilen und danach die Ergebnisse vergleichen.

Aber authentische Spielsituation sind chaotisch und in der Schule die große Herausforderung. In der Halle kann ich diese im Eins-gegen-Eins oder in anderen Spielformen erleben, wenn an meinem Gegner vorbeiziehen oder einen komplexeren Spielzug abschließe. In der Schule, vor allem bei mir am Gymnasium hingegen ist es anders. Wenn ich im Deutschunterricht eine Erörterung über traditionelle Themen wie die potentielle Einführung von Schuluniformen schreiben lasse, können Lernende zwar ihr Wissen darüber mit ihrer kommunikativen (Schreib)Kompetenz und dem Meta-Wissen dazu verbinden, aber ohne echte Neugier machen sie sich das Thema nicht zu eigen. Das Thema wird zur intellektuellen Fingerübung. Und Fingerübungen brauchen sehr viel (Grund)Motivation.

Für Jöran Muuß-Merholz ist das die Trennung der „vier Dimensionen der Bildung“: Wissen, Skills, Charaktereigenschaften (wie Neugier} und Meta-Lernen. „Wir nennen dieses Vorgehen ‚Fachunterricht‘ und ‚Didaktik‘.“ Darin zeigt sich ein fundamentales Problem:

Geordnete Schulstunden trennen Bildung von Authentizität!

Lernende können in einer Reihe, die dem traditionellen Schulbuch folgt (oder einer ähnlichen Logik), gut die im Curriculum geforderten Kompetenzen erwerben – aber dafür brauchen sie eine hohe Grundmotivation oder müssen sie sich das zu eigen machen (können). Sie müssen die Kompetenzen subjektiv relevant finden – genauso wie meine Basketballer:innen unbedingt den Ball in den Korb bringen wollen – alleine oder im Team.

Weg von den Feinlernzielen – hin zur eigenen, authentischen Zielen

Der Weg muss daher weg führen von systematisch geordneten Feinlernzielen und hin zu authentischen Zielen, um Motivation, Selbstwirksamkeit und Energie freizusetzen. Jöran nennt das Ziel, „didaktisiertes und natürliches Lernen wieder mehr miteinander zu verbinden“, und verweist auf „Ansätze wie das Projektlernen, bei dem Verantwortung für das eigene Lernen übernommen wird, Zusammenarbeit stattfindet, Kreativität und kritisches Denken gefragt sind – verflochten mit fachlichen Fragen und fachübergreifenden Lernzielen.“

Ich möchte ergänzen, dass vor allem die Frage nach individuellen und eigenen Zielen dem Lernen Relevanz gibt. Das zeigt mein Ansatz der zielorientierten Lesejournal- und Portfolioarbeit. Lernende setzen sich anfangs ein eigenes Ziel und reflektieren abschließend, inwiefern sie das erreicht haben – und was sie über sich und über die Ganzschrift gelernt haben.

Aber auch eine Erörterung über ein selbst gewähltes Thema hat für Lernende ein andere Relevanz, wobei ich die Situation, dass jede:r im eigenen Tempo über ein anderes Thema schreibt, als Lehrkraft oft als sehr chaotisch erlebe. Dennoch werde ich weiter mehr Chaos wagen!

Nachwort – oder: Was die Analogie auch illustriert…

  • Das große Basketballspiel lernen die Kleinen noch früh genug. Wer einmal einen falschen Einwurf macht, macht das (meistens) nur einmal.
  • Sich am großen Basketballspiel zu orientieren, hemmt den Lernfluss. Die Prüfungskultur wirkt auf die Lernkultur!
  • Basketballspiele ohne Schiedsrichter-Trainer müssen ebenso geübt werden wie eigenständiges Lernen. Beides erfordert Selbstdisziplin, ein gutes Miteinander und Übung.
  • Ein ganzes Spiel zu spielen, fordert Aspekte, die mit dem Spiel selbst nur bedingt zu tun haben. Vor allem kann ich das Spiel nicht simulieren, sondern nur spielen. Denn eine Übungsklausur bleibt eine Übungsklausur, ein Trainingsspiel ein Trainingsspiel. Wie ich Emotionen in Stresssituationen reguliere, sehe ich in der authentischen (Spiel)Situation oder der echten Klausur, weder am Schreibtisch noch im Training. Aber Ziel von Basketballtraining ist es, Spiele zu gewinnen; Ziel von Unterricht sollte nicht sein, Klausuren zu schreiben, sondern zu lernen.
  • Wie ich mir Themen zu eigen mache, muss von Lernenden gelernt und geübt, aber auch von Lehrenden angebahnt werden. Projekte oder Portfolioarbeiten mit selbstgewählten Zielen können wichtige Zwischenschritte sein. Oft zeigen Facharbeiten, dass (fast) erwachsene Lernende da große Defizite haben.
  • Wie der Umgang mit einer Drucksituation im Spiel muss auch der Umgang mit Frust oder negativer Gruppendynamik geübt werden. Wir brauchen dafür nicht künstlichen Prüfungsdruck, sondern authentische Anforderungssituationen; vor allem nicht nur in sozial isolierte, sondern auch in kooperative und kollaborative Settings. ⁃
  • Das traditionelle Schulbuch kann aktuell nur von Lernenden mit hoher Grundmotivation sinnvoll als Fingerübungen genutzt werden. Notwendig wäre eine Öffnung der Themen und Methoden, damit Lehrende und Lernende aktuelle Materialien einweben und bestehende modifizieren und remixen können. Inwiefern OER mit der Tradition von Schulbüchern zu verbinden sind, ist eine zentrale Frage.
  • Wie im Funiño gilt: Kleine eigenständig arbeitende Gruppen sind eine gute Wahl!
  • Kleine Spielvariantionen stärken unterschiedliche Lernende.
  • Es geht um Aktivierung, Selbstwirksamkeit und den individuellen Spieltrieb.

PS: Wer Sorge hat, Lernende würden in chaotischen Stunden die Unterrichtszeit nicht effizient nutzen, kann beruhigt sein. Schließlich wird „laut Studien bis zur Hälfte der Zeit mit Zuhören und Warten verbracht.“

cc by Niels Winkelmann

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