Hybridität als Sackgasse?
Ganz in Gedanken überquere ich die Ampel. Plötzlich fällt mir auf, dass ich nun mit dem Rad den Fußweg nehmen müsste – als ob ich meinen Sohn auf dem Rad begleite. Aber ich fahre alleine und hätte früher überlegen müssen, welchen Weg ich nehme. Jetzt ist die Planänderung aufwändig und ärgerlich.
Übertragbar ist diese Erfahrung auf Lernwege: Ob mit oder ohne digitale Endgeräte, ob in Präsenz oder auf Distanz, jedes Szenario folgt einer bestimmten Logik, nicht immer sind spontane Änderungen möglich. Aber von Anfang an:
Die kleine Analogie vom Radweg
Wenn ich privat Rad fahre, bevorzuge ich kurze Wege. Wo ich darf, nutze ich die Straße – auch die Linksabbiegerspur, um nicht auf alle Ampelphasen der Fußgänger warten zu müssen. Wenn ich allerdings meinen Sohn auf dem Rad begleite, plane ich anders. Dann wähle ich Wege, auf denen wir sicher unterwegs sind, die er auch ohne mich fahren kann, wenn er älter wird – bevor er sich eigene Wege sucht.
An einer großen Kreuzung auf dem Heimweg führt die sicherste Variante gegen die Fahrtrichtung über den Fußweg. Alleine fahre ich den Weg nicht. Meinen Sohn hingegen begleite ich dort. (Am liebsten würde ich dort auch fahren, wenn ich nur mit Kind im Fahrradanhänger unterwegs bin: Schon Kindergartenkinder prägen sich Wege ein und könnten sie später nutzen.) Daher überquere ich mit Kind nie die vierspurige Straße ohne Ampel, eher würde ich umkehren und einen Umweg in Kauf nehmen.

Vom Rad- zum Lernweg
Diese Analogie zeigt im Hinblick auf Unterrichtsplanung, dass Lernwege nicht immer beliebig fortzusetzen sind. Ich kann Unterricht unter den Bedingungen der Digitalität planen – wenn Endgeräte und Infrastruktur vorhanden sind. Ich kann Unterricht ebenso ohne Endgeräte planen. Ich kann aber schlecht spontan zwischen beiden Szenarien wechseln, weil ich beispielsweise Materialien und Werkzeuge entsprechend vorbereiten muss. Vor allem kann ich begonnene Lernpfade oft nicht spontan tauschen. Wenn ich mit Kind plötzlich eine vielbefahrene vierspurige Straße ohne Ampel überqueren will, bekomme ich ebenso Probleme wie beim Tausch des Grafik-Taschenrechners gegen Stift und Geodreieck – oder umgekehrt. Wenn ich im Unterricht mit digitalen Atlanten üben lasse und in der Arbeit Bücher verteile, werden Lernende mit Schwierigkeiten kämpfen.
Ebenso kann ich schlecht eine Unterrichtsreihe in Präsenz beginnen und dann eine begonnene Placemat-Methode spontan in die Distanz verlegen. Auch ein Stationenlernen mit physischen Materialien wie einem Riech-Memory kann ich nicht spontan zuhause fortsetzen lassen (ich müsste viel mehr Material vorbereiten).
Lernwege sind nur teilweise nahtlos fortzusetzen, weil jedes Szenario Besonderheiten hinsichtlich der (a)synchronen Kommunikation, der physikalischen und digitalen Möglichkeiten und der zeitlichen Flexibilität hat. Jedes Szenario ist didaktisch durchdacht und kann nur bedingt flexibel gehandhabt werden. Ich müsste als Lehrer also jedes Szenario unterschiedlich planen und Schüler:innen in Klassenraum und Klassenverband anders arbeiten lassen als zuhause, wenn sie ohne Mitschüler:innen und mit mir unbekanntem digitalen Vorraussetzungen arbeiten, einige nur mit ihrem Smartphone oder einem veralteten PC. Diesen enormen Zeitaufwand können Lehrer:innen schlicht nicht leisten, bereits jetzt arbeiten sie deutlich an der Belastungsgrenze:
„Wir können den Unterricht nicht immer digital und analog vorbereiten“
Udo Beckmann, Lehrerverband Bildung und Erziehung (VBE)
Zur Forderung nach „hybridem Unterricht“
Doch „wenn es nach dem Digitalverband Bitkom, der Bundesschülerkonferenz (BSK) und dem Bundeselternrat (BER) geht“ soll zukünftig keine Unterrichtszeit mehr verloren gehen: „Egal ob Quarantäne, Schneesturm oder ein gebrochenes Bein: Wenn Schüler nicht in die Schule gehen können, sollen sie künftig Anspruch auf Unterricht von zu Hause aus haben.“ Ähnlich wird es bei Corona-Quarantäne bereits gehandhabt. Niedersachsens Kulturminister Grant Hendrik Tonne bittet Lehrer:innen um die Nutzung von Videokonferenzen: „Bitte ermöglichen Sie Schülerinnen und Schülern, die sich in Quarantäne befinden, wo es geht, die hybride Teilnahme am Unterricht!“ Hybridität verwischt zum Buzzword, mit dem alles gemeint sein kann. Tonne erläutert hinterher, dass es ihm um die Einbindung per Videokonferenz geht.
Nordrhein-Westfalen formuliert allgemeiner: „Die zu einer Quarantäne verpflichteten Schülerinnen und Schüler erhalten Distanzunterricht. Sie sind auch weiterhin verpflichtet, sich auf diesen Unterricht vorzubereiten, sich aktiv daran zu beteiligen, die erforderlichen Arbeiten anzufertigen und die Hausaufgaben zu erledigen.“ Das Problem wird konkreter: (Hybrider) Unterricht scheint im allgemeinen Konsens eine Art Black Box zu sein, an die man Schüler:innen problemlos anschließen kann, ob in der Schule oder daheim:

Dass unterschiedliche didaktische Szenarien berücksichtigt werden müssen, wird übersehen. Dabei hat Distanzunterricht wie angedeutet eigene Bedingungen. Deshalb geben beide Bundesländer die didaktischen Hinweise von Axel Krommer, Philippe Wampfler und Wanda Klee weiter, von denen einer lautet: „So viel asynchrone Kommunikation wie möglich, so viel synchrone wie nötig.“ Darin zeigt sich die Widersprüchlichkeit von Distanzunterricht (mehr dazu von Krommer hier): synchrone Kommunikationformen wie die Videokonferenz sind wichtig, aber auch problematisch. Das verdeutlicht ein Blick in Lösungsvorschläge für das Phänomen „Zoom Fatigue“, der Erschöpfung durch Videokonferenzen:
Dr. Christina Heitmann, Referentin im Bereich Arbeitsgestaltung – Demografie am IAG
Stattdessen zwingen wir Schüler:innen in Dauerkonferenzen, die natürlich nicht (nur im Hinblick auf die Zugeschalteten) kurz gehalten und anders moderiert werden. Stattdessen bringen wir die Schüler:innen in eine Vortragsform. Minister Tonne empfiehlt (aus Datenschutzgründen), „die Kamera ausschließlich auf die unterrichtende Lehrkraft, die Tafel oder das Unterrichtsmaterial“ zu richten. Dadurch fallen wir zurück in Muster der Stoffvermittlung und damit hinter die Kompetenzorientierung zurück, die wir in den letzten Jahren etabliert haben. Zudem planen wir Unterricht nicht mehr didaktisch sinnvoll, sondern als Notlösung, denn dauerhafte Live-Zuschaltungen sind keine asynchrone Kommunikation.
Ganz im Gegenteil erzeugen die vielen Videokonferenzen aus meiner Sicht auf vielen Seiten eine Digitalitäts-Verdrossenheit: Unterricht mit digitalen Lösungen wird als anstrengend und wenig förderlich erlebt, was den Bemühungen um mehr Digitalität in der Schule den berüchtigten Bärendienst erweist. Besonders Kolleg:innen, aber auch Schüler:innen sehnen sich bisweilen in eine prä-digitale Zeit zurück, in der Unterricht noch als einfach und sinnvoll wahrgenommen wurde. Das weckt vermutlich ein erhebliches Potential restaurativer Kräfte.
Zur Ambivalenz der hybriden Lehre
Das didaktische Chaos zeigt, dass sich eine These von Jöran Muuß-Merholz auf die Schule übertragen lässt: Hybride Szenarien sind für ihn „nicht das Beste aus beiden Welten, sondern der kleinste gemeinsame Nenner aus beiden Welten.“ Schüler:innen digital zuzuschalten legt den Fokus einseitig auf eine zu stark vereinfachte Vorstellung von Unterricht. Diese Notlösung ist nachvollziehbar vor dem Hintergrund fehlender Konzepte aus der Kulturministerkonferenz (was ich bereit mit dem „Mantra von Präsenzunterricht“ erklärt habe). Langfristig führt dieses Denken allerdings zu einer Verschiebung – zugunsten der Unterrichtsquantität (also der durchschnittlichen Videobetreuung Unterrichtszeit pro Schüler:in) und zulasten der Unterrichtsqualität.
Um über qualitativ hochwertige hybride Szenarien nachzudenken, lohnt sich ein Blick auf hybride Lernarrangements, wie sie Michael Kerres 2001 für den Hochschulbereich beschrieben hat: „In einem hybriden Lernarrangement würde deswegen die reine Wissensvermittlung in Vortrags- form über längere Einheiten infrage gestellt. Die ‚Präsenz‘ von Menschen an einem Ort, auch mit Dozenten, verfolgt hier andere Ziele: in Themen einführen, zum Lernen motivieren, sich Kennenlernen, Gruppen bilden etc. – die interpersonelle (bidirektionale) Kommunikation muss in diesem Setting im Vordergrund stehen. Das Verständnis und die Anlage der Präsenzveranstaltung muss sich ändern, – weg von der Inhaltsvermittlung hin zu vielfältigen, strukturierten und betreuten Kommunikationsaktivitäten.“
Allerdings basieren Kerres‘ Überlegungen auf planbaren Präsenzphasen (und meint physische Präsenz und keine Videokonferenz), seine Überlegungen waren nicht für spontane Umplanungen konzipiert. Spontane Umplanungen sind wie im Straßenverkehr schlecht: Ich kann mich entscheiden, sinnliche Erfahrungen wie beim Riech-Memory oder praktische Experimente aus dem Unterricht zu streichen – oder Lernende auf Distanz davon auszuschließen. Auch bleibt die Frage, wie ich Distanzlernende in Gruppenarbeitsphasen einbinde. Diese Kompromisse deuten an, welchen qualitativen Kompromiss wir eingehen, wenn wir den kleinsten gemeinsamen Nenner suchen. Vor allem drohen wir Unterrichtenden an diesem Anspruch zu zerbrechen, weil wir uns für eine und damit implizit gegen eine andere Option entscheiden. Denn zur bestehenden Heterogenität in der Lerngruppe tritt mit Einführung des Videokonferenzmodelles eine weitere, eine modale Heterogenität hinzu.
Stärkung der Eigenständigkeit als ein Lösungsansatz
Das Problem besteht dabei auch – und im besonderen – in der traditionellen Planungshoheit der Lehrer:innen. Wenn Lehrende den Weg (für die ganze Lerngruppe) planen, müssen vorher alle Parameter bekannt sein. Wenn allerdings Lernende ihre eigenen Wege suchen, können sie sehr flexibel umplanen. Das haben Schüler:innen aus meiner Klasse durchaus gezeigt. Nachdem wir wie bei Kerres beschrieben in Präsenz das Thema eingeführt und die Gruppenbildung vollzogen haben, hat ein Scrum-Team (ich habe die Methode hier erklärt) über eine Quarantäne hinweg eng zusammengearbeitet und die interpersonelle Kommunikation digital gelöst – eigenständig und teilweise unabhängig von Unterrichtszeiten.
Auf die Fahrrad-Analogie übertragen haben sie gelernt, je neu die Situation zu betrachten und den Lernweg selbst sinnvoll fortzusetzen. So wie ich es mir von meinen Kindern auch erhoffe, wenn sie ohne mich unterwegs sind.
Nachwort: Vertiefungen zur Hybridisierung
Über die Corona-Zeit konnte ich auch in meinem Unterricht beobachten, dass genau die Aspekte, die Kerres in Präsenz verortet – vor allem Motivation, aber auch Gruppenbildung – auf Distanz schwierig zu realisieren waren. Bei der Themeneinführung hingegen, die Kerres noch in Präsenz sah, hat sich unser Verständnis für zeitgemäße Lehr-Lernszenarien weiterentwickelt. Mittlerweile „ist der einführend-informierende Lehrervortrag nicht [mehr] zeitgemäß, andere Informationsquellen sind zu bevorzugen. So ersetzen ein vorbereitendes Video (oder ebenso ein Text) den informierenden Einführungsvortrag“. Insofern hat sich Hybridisierung weiterentwickelt und deutlich ausdifferenziert, wie Muuß-Merholz analysiert: „In der Hochschule werden Inputs als Video verteilt, die teils synchron, teils asynchron und in 1,5-facher Geschwindigkeit wahrgenommen werden. Ist das eine Veranstaltung oder ein Material? Spätestens, wenn Studierende sich das gesprochene Wort ‚heimlich‘ von einer Diktierfunktion in ein Skript umwandeln lassen, ist die Veranstaltung gleichzeitig ein Material.“
Daher unterscheidet er in seinem lesenwerten Grundsatzartikel:
- „A. Treffen, Veranstaltungen (synchron: gleicher Ort, gleiche Zeit)
- B. Materialien, Publikationen (asynchron: ungleicher Ort, ungleiche Zeit)
- C. Austausch, Netzwerk (eher synchron, häufig „Nebenwirkung“ von A.)“
Und er wagt einen anderen Blick auf Unterricht: „In der Schule wird in Zeiten von Homeschooling/Distanzlernen das ‚Unterrichten‘ (eigentlich Treffen) in den Modus ‚Material verteilen‘ umgestellt. Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob der Austausch untereinander – ob auf dem Schulhof oder im Klassenzimmer – in Präsenz nicht die ‚heimliche Killer-Applikation‘ war, die wir erst jetzt richtig einschätzen.“
Ich möchte hier stärker differenzieren. Die „heimliche Killer-App“, also die entscheidende Stärke von Schule, die bisher unwichtig schien, ist nicht der Austausch allgemein. So zeigte sich, dass vor allem (digital) gut vernetzte Schüler:innen regen Austausch hatten – über eigene Discord-Server, in digitalen Musik-Projekten, privat organisierten Yu-Gi-Oh!-Turnieren und vielen anderen Formen. Die heimliche Killer-App war auch nicht der Modus des gemeinsamen Lernens im Klassenraum. Viele Schüler:innen haben im Distanzunterricht gut gelernt, auch wenn sich ebenso gezeigt hat, dass viele Schüler:innen ihr Lernen zu wenig eigenständig organisieren konnten. Vor allem brauchten sie die von Kerres geforderten „vielfältigen, strukturierten und betreuten Kommunikationsaktivitäten“, allerdings unter Berücksichtigung der Logik der Digitalität – wie in den erwähnten Empfehlungen von Krommer, Wampfler und Klee.
Als unersetzbare Killer-App für viele sehe ich die Schule als performativen Handlungsraum, vor allem im Hinblick auf die performative Identität: Der digitale Raum wird von Schüler:innen ohnehin im Hinblick auf ihre Identitätsfindung genutzt, wenn sie vor allem soziale Netzwerke zur Selbstdarstellung und -erprobung nutzen. Der physische Raum fällt allerdings weg, es kann kein physisches Netzwerk des einmaligen Miteinanders entstehen. Es fehlen „die ganz konkreten Aufführungen, in denen Menschen zum Ausdruck bringen, wie sie gesehen werden wollen und wie ihr Verhältnis zueinander ist […]. Die performativen Vollzüge setzen Wirklichkeiten in ihrer Nichtwiederholbarkeit, in ihrem Ereignis- und Präsenzcharakter.“ (Jörg Zirfas, Struktur und Ereignis. Schule als performativer Handlungsraum. In: Jörg Hagedorn [Hrsg.]: Jugend, Schule und Identität. S. 195).
Hypothese: Erfolgreich waren im Lockdown vor allem Schulgemeinschaften, die ein virtuelles Schulleben organisieren konnten, entweder durch Anregungen für die Schüler:innen für zuhause (wie hier), durch die spielerische Gestaltung von Videokonferenzen oder durch Corona-Challenges für Klassen oder die ganze Schulgemeinschaft. Das kann zwar physische Performanz und physische Netzwerke nicht genau ersetzen, ermöglicht aber einen (zweckfreien) Raum für Selbstdarstellung und -erprobung.
cc by Niels Winkelmann
Danke für den Text, Niels! Er zeigt gut auf, dass sich hinter dem Pseudokonsens-Wort „hybrid“ im besten Fall Kuddelmuddel, im schlechteren Fall pädagogische Steinzeit verbirgt. Und das Nachwort hat mich auch nochmal besonders interessiert.
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